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Nordstadtblogger: Ehrenamt mit Zweitnutzen

Alexander Völkel hat mit den Nordstadtbloggern in Dortmund ein nichtkommerzielles lokales Blog etabliert, das mit einem klaren Fokus auf soziale Themen weit über den Stadtteil und die Stadt hinaus wirkt. Nebenbei hat er einen neuen Vermarktungsweg für unabhängige Journalisten gefunden. Jetzt steht der nächste Entwicklungsschritt an.

Die Nordstadtblogger sind eine Marke für sich. Nicht nur im Bezirk Innenstadt-Nord, nicht nur in Dortmund, sondern in ganz Deutschland steht dieser Name für eine gründliche Sozialberichterstattung und aufmerksame Beobachtung der rechten Szene. Denn dahinter stehen gut ausgebildete Journalist, die sich nach dem Ende der Westfälischen Rundschau zunächst ein Übungsfeld und dann eine neue wirtschaftliche Grundlage geschaffen haben. 

„Am Anfang war die Seite nur ein persönlicher Schrebergarten", sagt Alexander Völkel, der die Nordstadtblogger im März 2013 gegründet hat. Inzwischen arbeitet der 41-Jährige mit einem zehnköpfigen ehrenamtlichen Team, ist aber nach wie vor Macher, Motor und an vielen Punkten auch der Mäzen des gesamten Projektes. 120 Redakteure und über 180 Pauschalisten im ganzen Ruhrgebiet hatte die WAZ nach der Übernahme der Westfälischen Rundschau (WR) freigestellt, zum Teil für bis zu zwei Jahre. Erfahrene Lokaljournalisten, die in dieser Zeit alles machen durften, nur nicht in Konkurrenz zur WAZ treten. Was das bedeutet, war im Vertrag ebenso klar wie einseitig formuliert worden: Die freigestellten Redakteure durften keine Abos und keine Anzeigen verkaufen. „Eine inhaltliche Konkurrenz um die Leser konnten sich die Verlagsmanager offenbar nicht vorstellen, oder es hat sie nicht interessiert", vermutet Völkel. 

Daher sammelte er einige seiner Kollegen („Wir waren zum Start 100 Prozent WR") und legte mit den Nordstadtbloggern los - als Übungsblog ohne wirtschaftliche Ziele. Denn die Mitarbeiter waren ja finanziell abgesichert. Schnell erhielt das Team positive Resonanz von den Lesern, die große Erwartungen in das Projekt setzten und eine starke Eigendynamik in Gang brachten. Die Zahlungen der WAZ und die Freistellungen sind seit zwei Jahren Geschichte. Nichtkommerziell ist das Angebot aber nach wie vor - und dennoch bietet es den Mitarbeitern inzwischen über Umwege eine Existenzgrundlage.

Inhaltlich wollten Völkel und Mitstreiter zunächst einmal nur zeigen, dass die historisch und sozial so wichtige Nordstadt Dortmunds sehr viel mehr zu bieten hat, als die in der Tagezeitung übliche Blau- und Rotlichtberichterstattung. Daraus sind Serien entstanden wie die 106 Gruppen-Porträts unter dem Titel „Wir: Echt Nordstadt", historische Bildbände, Ausstellungen oder das viermal im Jahr erscheinende, gedruckte „ Nord.Mag - Das Nordstadt-Magazin ".

Die Nordstadt ist seit mehr als 150 Jahren der Brennpunkt der Entwicklung Dortmunds und damit ein gutes Beispiel für politische und soziale Entwicklungen in Deutschlands Großstädten. Das spiegelt sich auf der tagesaktuellen Website „Nordstadtblogger" schon in der Seitennavigation. Die Ressorts heißen hier nicht „Politik, Sport, Kultur", sondern „Rechtsextremismus, Roma, Refugees Welcome". Ganz gezielt wird über Themen, die als relevant eingeschätzt werden, sehr breit und tiefgehend berichtet: „In der Zeitung hat man für eine Podiumsdiskussion die üblichen 60 oder 80 Zeilen. Das kann man auch gleich bleiben lassen", sagt Völkel. 

Im Blog gibt es keine Begrenzungen der Länge. Daher gehen manche Berichte in die Richtung von Dokumentationen. Zum Beispiel die Berichterstattung über die Haushaltsreden im Stadtrat, den die Nordstadtblogger routinemäßig abdecken. Die Tageszeitung bringt pro Partei 20 Zeilen und ist stolz darauf, Völkel hat über die Position der sieben Parteien 30.000 Zeichen aufgeschrieben: „Wer mehr wissen will, der ist bei uns richtig." 

 Eine Einstellung, die es dem Team erleichtert hat, von den Ansprechpartnern in der Stadt ernst genommen zu werden. Einer der fünf Presseplätze im Ratssaal war von Anfang an für die Newcomer reserviert. Für wirklich investigative Berichte fehlt den Nordstadtbloggern mitunter die Zeit. 

Doch sie berichten aufmerksam und gründlich über Missstände. Das aber nicht marktschreierisch, sondern konstruktiv. „Wir sind kein klassisches Stadtteilportal. Wir machen Geschichten aus der Nordstadt für die Nordstadt, aber ganz bewusst auch größere Geschichten, die sich weit über Dortmund hinaus nach außen richten", erläutert Völkel. Das sei klassischer Lokaljournalismus, weil diese Themen für die Bewohner vor Ort relevant sind - und eben auch für viele Leute außerhalb von Dortmund.

Die größeren Geschichten mit überregionalem Anspruch, das sind vor allem Berichte aus den Themenfeldern Soziales, Integration und Rechtsextremismus. Dafür sind die Nordstadtblogger bundesweit bekannt - und hier gründet ein wichtiger Pfeiler ihres Geschäftsmodells: Sie verkaufen die Zweitnutzungsrechte dieser Geschichten an überregionale Tages-, Wochen- und Monatszeitungen.

Dabei dient das Blog nur als Plattform und Kontakthof - die Honorare rechnen die Auftraggeber direkt mit den Autoren ab. Das Nordstadtblog macht keine eigenen Umsätze mit dieser Form der Syndizierung. Zum zweiten nutzen die Journalisten die Berichte als Einstieg und Referenz für regulär bezahlte Aufträge aller Art auf dem freien Arbeitsmarkt. Einzeln oder gemeinsam werden die Nordstadtblogger von anderen Medien, Institutionen, Stiftungen oder Unternehmen gebucht - für Artikel, Bücher, Moderationen und auch für Corporate Publishing-Aufträge. „Bei den Inhalten lassen wir uns nicht verbiegen", betont Völkel, „aber häufig wollen die Auftraggeber genau die Texte und den Stil, den sie aus dem Nordstadtblog kennen". 

 Für ihn, aber auch für die anderen Mitarbeiter sei das Nordstadtblog „ein großartiger Themen- und Auftragsgenerator", sagt der Journalist. Er arbeite vier bis acht Stunden am Tag ehrenamtlich für das Nordstadtblog, „davor, danach und zum Teil auch damit verdiene ich mein Geld". Thematisch gebe es zwischen dem ehrenamtlichen Engagement und den Auftragsarbeiten große Schnittmengen: „Ich bekomme immer wieder Anfragen von Leuten, die meine Texte im Blog gelesen haben, denen die Fokussierung gefällt und die genau diesen Ton wollen", erläutert Völkel. Diese Ausrichtung auf potenzielle Mehrfachverwertungen kommt beiden Seiten zugute. Die Auftraggeber buchen einen Nordstadtblogger, weil er in seinem Thema schon lange unterwegs ist, Hintergrundwissen und Kontakte mitbringt. Umgekehrt nützt es der Qualität des lokalen Blogs, wenn externe Auftraggeber eine längerfristige Recherche finanzieren. Das thematisch sauber ausgerichtete Blog diene damit als Marketingtool für freie Journalisten und könne auch für Nachahmer als Geschäftsmodell dienen - „wenn man einen sehr langen Atem hat und es einem auch wirklich Spaß macht", urteilt Völkel. 

 Für lokale Projekte dieser Art sei es jedoch wichtig, dass die Stadt groß genug sei und über eine breite Themenpalette verfüge. Gleichzeitig müsse es einen Markt für journalistische Leistungen geben, nur dann könnten sich gute Journalisten diese Art von Ehrenamt auch leisten.

Grundsätzlich sind die „Nordstadtblogger" eher ein lockeres Kollektiv als eine Redaktion. Sie haben mit der Website einen gemeinsamen Nenner und einen Heimathafen gegründet, finden sich aber immer wieder neu in diversen Projekten zusammen. Oft sind dabei kommunale und soziale Stellen die Kooperationspartner - und damit auch Geldgeber.

Basisausgaben wie das Hosting der Website oder auch mal eine Kamera zahlt Völkel aus eigener Tasche. Er ist alleine presserechtlich verantwortlich, im Impressum taucht nur sein Name auf. 

 Die Website selbst ist eine unaufwändige Wordpress-Installation ohne irgendwelche Sonderfunktionen oder Schnickschnack. Einen Newsletter gibt es im Moment nicht, auch keinen WhatsApp-Kanal. Die Facebook-Seite hat rund 7.500 Fans, noch stärker nachgefragt wird der Twitter-Account mit mehr als 8.000 Followern. Wer nicht genau weiß, wonach er sucht, hat es auf der Website schwer, die Bedeutung und Tiefe der Seite zu erkennen. 

Vier bis fünf neue Beiträge erscheinen täglich in chronologischer Reihenfolge, da verschwinden Schwergewichte rasch aus der Sichtweite. Eigene Videos haben die Nordstadtblogger bislang nur gelegentlich produziert. Doch schon für den Mai haben sie sich die neue Serie „Das Video der Woche" vorgenommen.

Dabei legt das Team großen Wert darauf, Schwerpunkte zu setzen, nicht auf die Reichweite zu schielen und nicht beim üblichen Klick-Spektakel mitmachen zu müssen. Blaulichtmeldungen gibt es zum Beispiel nur dann, wenn das Ereignis relevant ist. „Weil wir keine Anzeigen verkaufen müssen, ist das alles für uns gar nicht so wichtig", erklärt Völkel.

Die Nordstadtblogger haben nach eigenen Angaben dennoch eine relativ stabile Reichweite von zwei Millionen Visits im Jahr, berichtet Völkel. 

Das Wachstum sei ausschließlich organisch, weder für Eigenmarketing noch für Facebook-Werbung habe man bislang auch nur einen Euro ausgegeben. Das sei auch gar nicht nötig gewesen, weil die Mund-zu-Mund-Propaganda im Kiez funktioniert habe und weil andere Medien relativ ausführlich über das gemeinnützige Projekt berichtet haben.

Derzeit hat die Redaktion rund zehn Autoren, die sich unterschiedlich intensiv engagieren. Manche schreiben fast täglich, andere nur ein oder zweimal im Monat. Dabei handelt es sich überwiegend um klassisch ausgebildete Redakteure und Fotografen sowie um einige (Journalistik)-Studierende, die in der Nordstadt praktische Erfahrungen sammeln. Lange Zeit hatte Völkel das Blog gemeinsam mit dem Fotografen Klaus Hartmann geleitet, der sich jedoch aus dem Projekt zurückgezogen hat.

Es gibt regelmäßige Redaktionskonferenzen und einen Redaktionskalender, aber große Teile der Kommunikation laufen per Mail. Ein kleines Redaktionsbüro haben die Nordstadtblogger erst jetzt, vier Jahre nach der Gründung eingerichtet. Hier sollen bald zwei Journalisten, die vom Arbeitsamt gefördert werden, nach langer Arbeitslosigkeit den Wiedereinstieg in den Beruf schaffen.

Redaktionell und technisch gepflegt wird die Seite im Moment vor allem von Völkel, der auch die Serverkosten für die Nordstadtblogger selbst bezahlt. Das mache er, weil ihm das Projekt ein Herzensanliegen sei, weil er es sich inzwischen leisten könne und weil es sich indirekt auch auszahle, erklärt der Macher sein persönliches Geschäftsmodell.

Nach vier Jahren sind die Nordstadtblogger und ihr Protagonist Völkel an einer Wegmarke angekommen. Er selbst, der seinen Job als Redaktionsleiter der Westfälischen Rundschau in Hagen verloren hatte, verdient als freier Journalist längst wieder so viel wie ein festangestellter Redakteur.

Gut bezahlte feste Anstellungen habe er mehrfach abgelehnt, sagt Völkel. Weil er weiter selbstbestimmt arbeiten will. Aber der Journalist weiß auch, dass das Projekt „Nordstadtblogger" ohne sein Engagement nicht überleben würde. Daher diskutiert die Redaktion derzeit intensiv, wohin sich ihr Medium entwickeln soll. Ziel ist es, wenigstens einen Teil der Mitarbeiter (neben den Ehrenamtlern) bezahlen zu können und das ganze Projekt auf eine nachhaltige Basis zu stellen. Eine Kommerzialisierung zum Beispiel durch Anzeigen ist dabei gar nicht ausgeschlossen. Aber das zukünftige Modell müsse zum bisherigen Ehrenamtskonzept passen, betont Völkel. 

Noch sei nichts entschieden, aber einiges deute auf ein Solidarmodell hin. Dann würde man auf eine harte Bezahlschranke verzichten und stattdessen auf freiwillige Förderbeiträge und eine steuerlich geförderte Gemeinnützigkeit setzen. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Nordstadtblogger sich erst einmal eine Struktur geben. Zum Beispiel, indem sie einen Verein gründen. Dann könne man auch verstärkt in die Weiterbildung gehen. 

 Damit würden sich die Nordstadtblogger auch für öffentliche Förderungen qualifizieren. Zwar stoßen die Journalisten in ihrem Kiez, bei der Dortmunder Politik und auch bei überregionalen Institutionen auf großes Wohlwollen, sagt Völkel - „aber formal gibt es uns bislang ja gar nicht".

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