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Lucerne Festival stellt die Grundfragen: Was ist ein Ton? | NZZ

Das zweite Wochenende im gross angelegten Luzerner "Kosmos Stockhausen" bringt Wiederbegegnungen mit Hauptwerken des Avantgardisten. Ist dies der Startschuss für eine neue, geläuterte Sicht auf den musikalischen Revolutionär?

Der Luzerner Saal des KKL ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Drei Orchesterpodien sind hufeisenförmig um das Publikum aufgestellt. Es ist angerichtet - für Karlheinz Stockhausens Komposition "Gruppen" für drei Orchester, uraufgeführt 1958 in Köln, die in ihrer Komplexität höchste Anforderungen an die Interpreten stellt. Mit ihrer Räumlichkeit, der Fülle an Farben und dem rhythmischen Reichtum fasziniert dieses Schlüsselwerk der Nachkriegsavantargde bis heute.

Wolfgang Rihm hatte sich den Stockhausen-Schwerpunkt zu dessen 90. Geburtstag im August für die diesjährige Lucerne Festival Academy gewünscht, die er seit 2016 in der Nachfolge von Pierre Boulez leitet. Dass nach der überraschenden Trennung von Principal Conductor Matthias Pintscher nun sein Schüler und früherer Akademieteilnehmer Jaehyuck Choi eingesprungen ist, um neben Duncan Ward und Simon Rattle die aus dem Lucerne Festival Academy Orchestra und Mitgliedern des London Symphony Orchestra gebildeten Instrumentalgruppen zu dirigieren, verleiht den beiden Aufführungen eine zusätzliche Note.

Eine Brücke zum Hörer

Die drei Dirigenten schauen sich an, um die von Stockhausen geforderten Temporelationen genau umzusetzen. Nach eher zögerlichem Beginn in der von Choi dirigierten Gruppe des Academy-Orchesters entspinnt sich bald ein dichtes Netz an Beziehungen. Steigerungen bauen sich in den Überleitungsabschnitten auf, wenn ein Schweller im Blech durch die Orchestergruppen gejagt wird oder sich die Schlagzeugsektionen zu einem Gruppenverband vereinigen. Die Ereignisdichte nimmt zu, aber auch in den eruptiven Passagen bleibt das Klangbild rund und ausbalanciert. "Gruppen" endet ganz leise mit einem von Rattle lächelnd dirigierten Terzsprung im Horn, ehe der Applaus aufbrandet und die drei Dirigenten zu Recht vom Publikum gefeiert werden.

Das zweite Wochenende, das in Luzern den "Kosmos Stockhausen" ergründet (Dramaturgie: Mark Sattler), beschäftigt sich bis auf eine Ausnahme mit Schlüsselwerken aus den 1950er Jahren, in denen der deutsche Komponist fast mit jedem Werk eine neue Tür innerhalb der zeitgenössischen Musik aufstiess. "Als ich Stockhausen in Köln begegnete, fing für mich alles erst an: Was ist ein Ton? Wie entsteht ein Ton? Was ist Lautstärke? Was ist Dauer?", berichtet Péter Eötvös in einem Interview von seinem Zusammentreffen mit dem Pionier der Neuen Musik. In den "Klavierstücken" kann man jene Klang-Suche hörend nachvollziehen, wenn Pierre-Laurent Aimard im Luzerner Maihof diese Welt erforscht.

Schon in den ersten vier Stücken von 1952 verbindet Stockhausen den meist in extremen Lagen angesiedelten Einzelton mit Verdichtungen und Zusammenklängen. Ab dem fünften Klavierstück experimentiert er mit der Wirkung des Pedals. Aimard beherrscht diese Kunst vollendet, wenn er einzelne Töne, kaum hörbar und entrückt, weiterklingen lässt - Nachhall als Verbindung zwischen punktuellen Klangereignissen! Jede Note setzt Aimard bewusst, jede Artikulation ist modelliert. Trotzdem entsteht im Spiel des Franzosen eine sinnliche Freiheit, die eine Brücke zum Hörer bildet. In den letzten drei Klavierstücken schliesslich sprengt Aimard mit scharfen Clustern und heftigen Glissandi die Grenzen des Instruments - Handschuhe, die die Fingerkuppen freilassen, schützen seine Hände vor den Kanten der Tasten.

Handschuhe für den Pianisten

Die Freiheit des Interpreten, die Stockhausen für das Klavierstück Nr. 11 vorgesehen hat, ist in "Zyklus für einen Schlagzeuger" von 1959 auf die Spitze getrieben. Hier kann Dirk Rothbrust frei bestimmen, an welcher Stelle der Partitur er beginnt und in welche Richtung er sich bewegt. Das Zufallsprinzip trifft hier auf die genaue Ausgestaltung der einzelnen Schläge. Traumwandlerisch, fast wie ein Tänzer bewegt sich Rothbrust in dem kreisförmig angeordneten Schlagzeug. Im "Gesang der Jünglinge" (1955/56) hatte Stockhausen erstmals die menschliche Stimme mit Elektronik kombiniert. Wegen seiner religiösen Dimension - der Komponist wollte ursprüngliche eine Messe schreiben für den Kölner Dom - passt das Werk besonders gut in die Kirche am Maihof. Klangregisseur Marco Stroppa macht aus dem Stück ein virtuoses Feuerwerk an Farben, das den Raumklang zelebriert. Noch mehr verschwimmen die Grenzen zwischen instrumental erzeugten Klängen und dem eingespielten Tonband in "Kontakte" von 1958-60. Schnelle Repetitionen auf dem Klavier und Schlagzeugwirbel werden mit einem elektronischen Flimmern beantwortet: Dialoge auf engstem Raum! Und man erfährt, wie stark die Verbindung ist zwischen den real akustisch erzeugten Klängen und Stockhausens elektronischen Nachbearbeitungen. Hört man die Nachklänge der "Klavierstücke" ohne Vorwissen, so könnte man meinen, dass bei diesen Klangphänomenen Elektronik mit im Spiel ist.

Imaginäres Lagerfeuer

Auch den Obertongesang in "Stimmung" hat Karlheinz Stockhausen selbst ausprobiert, als er das Werk im Jahr 1968 in den USA komponierte und einzelne Töne nur leise summte, um den Schlaf seiner Kinder nicht zu stören. Die sphärenhaften Obertöne werden bei der atmosphärisch dichten Aufführung durch das Basler Solistenensemble SoloVoices elektronisch verstärkt und durch den Raum geschickt. Die jeweils drei Sängerinnen und Sänger sitzen auf Kissen um eine Lampe herum im Kulturzentrum Neubad, einem früheren Schwimmbad. Auch das Publikum hat sich um das imaginäre Lagerfeuer versammelt, um sich der siebzigminütigen Klangmeditation zu widmen.

Ausgehend von einem einzigen Grundton entwirft Stockhausen hier einen grossen Bogen, der von Wiederholung und Variation getragen wird. Die insgesamt sechs Töne des Akkords werden behutsam weitergegeben. Die musikalische Führung wechselt zwischen den sechs Solisten. Einige erotische Zeilen des Komponisten von diskutabler Qualität sind ebenso eingebettet wie magische Götternamen. Der sinnliche, spirituelle Stockhausen - auch er ist bei dieser beeindruckenden, qualitativ erstklassigen Werkschau am Lucerne Festival zu erleben. Sie darf ohne Frage als Meilenstein gelten auf dem Weg zu einer zweiten, nun vielleicht erst richtig einsetzenden Rezeption dieses gewaltigen Œuvres.

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