Olivier Rolin: Port Sudan. Liebeskind 2021
„Lieber Freund“ steht ganz oben auf einem datierten, ansonsten leeren Blatt. Einen Tag später tötet sich der Verfasser des ungeschriebenen Briefes. Sein Adressat ist ein Franzose, den es nach Port Sudan verschlagen hat. Als dieser von der Tragödie erfährt, reist er sofort nach Frankreich zurück. Über den Suizid des alten Freundes findet er dort recht wenig Handfestes heraus, sich selbst hingegen in Paris nicht mehr zurecht. Zurück in Afrika schreibt er einen Bericht über die Reise in sein Notizheft.
Soviel zum nicht sehr ereignisreichen Plot von Olivier Rolins bereits 1994 im Original erschienenen Roman „Port Sudan“. Entsprechend kurz ist der Text, und doch ist man als Leser recht lang damit beschäftigt: Er ist alles andere als ein Page-Turner. Man will ganz im Gegenteil keinesfalls zu schnell umblättern, da die langen, eleganten und ungemein dichten Sätze des Ich-Erzählers ausreichend Zeit brauchen, um ihre volle Wirkung zu entfalten, die auch in der makellosen Neuübersetzung von Holger Fock und Sabine Müller erhalten bleibt.
Das beginnt schon mit den eindrucksvoll trostlosen Schilderungen der Stadt Port Sudan am Roten Meer. Der Ich-Erzähler ist dort Hafenkapitän und beschreibt mit resigniertem Blick allerlei dubiose und verbrecherische Machenschaften, deren Zeuge er bei seiner täglichen Arbeit wird, die zu ändern er aber längst nicht mehr versucht.
Der leere Brief seines toten Freundes reißt ihn aus der Lethargie. Die Reise nach Frankreich wird für den Hafenkapitän zur Reise in die Vergangenheit, bei der er sich vor allem mit seinem eigenen früheren Selbst auseinandersetzen muss. Die Freundschaft wurzelt im gemeinsamen politischen Kampf, der im Pariser Mai 1968 seinen Ausgang genommen hat. „Das einleitende Paradox unseres Lebens, das ihm einen unauslöschlichen Stempel gegeben und es vielleicht mit einem Fluch belegt hat, den wir nie loswerden, besteht darin, dass wir so viel Kraft in den Dienst von Ideen gestellt haben, die auf so grausame Weise überholt waren. […] Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es unter uns ein blindes Streben nach Heldentum oder Heiligkeit gab, oder wie immer man es nennen mag, und wir dürfen nicht zulassen, dass man sagt, es sei nicht so gewesen.“
Die Frage, wie man das eigene politische Engagement im Nachhinein bewerten soll, wenn sich die Ideen, für die man kämpfte, als zumindest problematisch herausstellen, kennt Olivier Rolin als ehemaliger militanter Maoist. Immer wieder treten in den Romanen des selbst in Afrika aufgewachsenen Autors Figuren auf, die so wie er vor den Trümmern ihrer alten Träume stehen – was freilich nicht bedeutet, dass die anderen im Recht waren. Auch der Hafenkapitän von Port Sudan schämt sich nicht für seinen Idealismus von damals. Für das neue Paris, in dem die alten Buchhandlungen und Cafés von Boutiquen und Fast-Food-Restaurants verdrängt wurden, hat er nur Verachtung übrig. Von ähnlich stolzer Resignation gefärbt ist der Blick des Erzählers auf die Liebe. Von der Haushaltshilfe seines toten Freundes erfährt er, dass dieser durch das Scheitern einer Beziehung in seine tödliche Krise schlitterte. Auch die Suche nach Spuren dieser unbekannten jungen Frau wird für den Hafenkapitän zur Auseinandersetzung mit sich selbst, hat doch auch ihm das Verlassenwerden einst eine unheilbare Wunde zugefügt, die er hinter einer abgebrühten Maske gut sichtbar versteckt.
Und doch irrt dieser Erzähler, der es so meisterhaft versteht, die eigenen Kämpfe und das eigene Leiden in immer neuen Satzkaskaden zu zelebrieren, wenn er behauptet, vorzeitig gealtert zu sein.
Zu altern bedeutet nämlich auch zu reifen, während sich der Hafenkapitän angesichts der erlittenen Kränkungen – des gescheiterten politischen Kampfes, der gescheiterten Liebe – in einen Schmollwinkel zurückgezogen und es sich dort über die Jahrzehnte hinweg recht behaglich eingerichtet hat. Er gefällt sich in der Pose des edlen Außenseiters, der sich fortan beleidigt der schnöden Welt verweigert. Wie sehr ihn diese Trotzhaltung zum weiteren Scheitern verurteilt, wird vor allem beim Versuch offenbar, die Persönlichkeit der unbekannten Geliebten seines toten Freundes zu erfassen.
Seine Egozentrik
macht es dem Erzähler unmöglich, der fremden jungen Frau so etwas wie eine
eigene Persönlichkeit zuzugestehen, sie gerät ihm zur Projektionsfläche von Altherrenphantasien.
Sein Freund sei demnach augenscheinlich „verführt worden, fasziniert nicht nur
von ihrer Schönheit, sondern auch von ihrer Jugend, der sichtbaren
Unbeschwertheit, die sie ihm darbot. […] Er hatte geglaubt, mit ihr zu neuen
Kräften zu kommen, wiedergeboren zu werden, und dann hatte er sich wie viele
idealistische Männer vorgestellt, er könne sie allmählich auf seine Seite
ziehen, sie gewissermaßen bilden, ihr das beibringen, wovon sie im Grunde so
wenig wusste. Er meinte das Leben, aber eines das – ein anderes konnte er sich
nämlich nicht vorstellen – unter der doppelten Aszendenz jener stürmischen
Mächte, Geschichte und Literatur, stand.“
Dass er den Brief des toten Freundes, den er durch seine Reise rekonstruieren wollte, letztendlich selbst geschrieben hat, stört den zunehmend innerlich zerrütteten Erzähler nicht weiter: Der Freund lebt schließlich in ihm weiter, in Afrika würde man sagen, er habe die Seele des Freundes gefressen, sinniert der Hafenkapitän, dessen letzter Anker in der äußeren Welt mit dem Verschwinden einer flüchtigen Geliebten während seiner Abwesenheit verlorengegangen ist. Auch dagegen kann er, der doch stets nur um sich selbst zu kreisen vermag, nichts mehr unternehmen. Gegen Ende seiner Notizen werden die Kreisbewegungen immer schneller, wirbeln die Grenzen von Personalpronomen und Persönlichkeiten, aber auch die von Erinnerungen und Mutmaßungen durcheinander und lösen sich in einer rauschhaften Schlusssequenz vollends auf. Auch für den Leser schließt sich ein Kreis. Das virtuos geschriebene Ende führt ganz an den Anfang des Textes zurück, an dem es heißt: „Ich schreibe diese Zeilen, um irgendwie zu überleben. Ich nehme an, es gibt keinen anderen Grund, um zu schreiben. Ich sage, ich schreibe das auf, doch ich weiß nichts darüber: Was weiß man schon?“
Original