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Julian Assange - Der Vergessene

Julian Assange

Von Georg Elser am 23. März 2015 um 13:34 Uhr


Der Himmel trägt tristes Grau, der Wind peitscht durch die verregneten Straßen und die Kunden des edlen Harrods im feinen Londoner Stadtteil Knightsbridge beeilen sich, um sich und ihre Einkaufstüten schnell ins Trockene zu bringen. Selbst ein mit Strasssteinen verzierter Mercedes CLS 350, der direkt vor dem Kaufhaus abgestellt ist, vermag es bei diesem Wetter nicht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Im Gebäude direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzt ein Mann fest, der nur allzu froh wäre, wenn er einfach mal wieder ins Freie gehen und Regentropfen im Gesicht spüren könnte. Oder sich hinter das Steuer eines Wagens klemmen und spontan losfahren könnte, irgendwohin. Die Rede ist von Julian Assange, 43, der nun seit fast drei Jahren in einem engen Appartement der Botschaft von Ecuador festsitzt und sich gegen ein Verfahren in Schweden und eine drohende Auslieferung an die USA wehrt.

Rückblick

Was hat dieser Mann vor Jahren noch für Schlagzeilen gesorgt. Weltweit überschlugen sich Medien mit Titelgeschichten und immer neuen Enthüllungen, nachdem er und seine Mitstreiter im November 2010 über ihre Plattform Wikileaks Geheimdokumente zu den Kriegen im Irak und in Afghanistan sowie tausende US-Diplomatendepeschen veröffentlicht hatten. Es war der größte Coup der Enthüllungsplattform. Wikileaks war das Epizentrum eines Enthüllungs-Erdbebens, dessen Wellen diplomatische Beziehungen auf der ganzen Welt beeinträchtigen sollten. Und Gründer Julian Assange war plötzlich in aller Munde.

Auf eine eindeutige Beurteilung seiner Person konnte sich die Öffentlichkeit jedoch nie einigen. Zu widersprüchlich waren die Informationen, zu kontrovers wurde die Arbeitsweise von Wikileaks diskutiert. Hacker, Held, Aktivist und Journalist für die einen, Verräter, Sexist, Wichtigtuer und Egomane für die anderen. Rechtskonservative Populisten aus den USA schlugen sogar eine Tötung per Drohne vor.

Andere würden ihm dagegen lieber ein Denkmal setzen. Zuletzt wollte ein italienischer Bildhauer Assange lebensgroß in Bronze gießen und rief über Kickstarter zu einer Spendenaktion für seine Idee auf. Doch das Projekt kam nicht zu Stande. Nicht einmal ein Drittel der geforderten Summe kam am Ende durch die Spenden zusammen.  

An diesem Beispiel manifestiert sich die ganze Brutalität des Nachrichtenwerts: Selbst wenn man weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat, irgendwann ist das Interesse erschöpft, wenn man keinen Nachrichtenwert mehr besitzt oder neuen produziert. Vor Jahren wäre der Betrag vermutlich binnen kürzester Zeit zusammengekommen, doch Assange ist in Vergessenheit geraten.

Assange im Jahr 2015

Heute müssen immer neue Nachrichten produziert und in 140 Zeichen gequetscht werden. Das Thema Wikileaks hat sich tot gelaufen, die letzten Enthüllungen kamen in ihrer Bedeutung nicht annähernd an die Ereignisse von 2010 heran.

Spätestens, wenn die Betroffenen sich in einem „Was macht eigentlich?“-Artikel wiederfinden, haben sie es schwarz auf weiß: Sie sind endgültig über den Tellerrand der öffentlichen Wahrnehmung gekippt. Schluss. Aus. Ende. Von diesem Schicksal ist Julian Assange nicht mehr weit entfernt. Er findet in den Medien nur noch gelegentlich statt, sein Nachrichtenwert ist überschaubar geworden.

Zuletzt kursierte die Meldung, dass die schwedische Staatsanwaltschaft ihn nun doch in London zu den Vorwürfen sexueller Straftaten aus dem Jahr 2010 befragen möchte. Damit würde zumindest wieder ein bisschen Bewegung in seine Situation kommen. Es ist ihm zu wünschen, denn der Mangel an Bewegung, Frischluft, sozialen Kontakten, gepaart mit einer ständigen Überwachung: All diese Umstände sind menschenunwürdig und sollten mitten in Europa eigentlich undenkbar sein.

Assange ist sicherlich kein Unschuldslamm. Aber der Preis, den er bezahlt, ist hoch. Vielleicht zu hoch. Es wird allerhöchste Zeit, dass es zu einem fairen Prozess kommt. Vielleicht zahlt sich das Spiel auf Zeit für die Behörden aber auch einfach aus. Seine Situation wird ihn mit Sicherheit in jeder Hinsicht an seine Grenzen bringen. Bereits im August letzten Jahres hatte Assange signalisiert, dass er das politische Asyl in der Botschaft verlassen möchte. Doch was erwartet ihn dann?

Während man im Londoner Regen vor der Botschaft steht und über all das nachdenkt nähert sich ein Polizist, der sich bisher dezent im Hintergrund aufgehalten hat. Er möchte dann doch wissen, warum der neugierige Besucher aus Deutschland so viele Bilder von der Botschaft macht. Nach kurzer Befragung (woher man kommt und für wen man schreibt) kommt ein kleiner Smalltalk zustande. Auf die Frage, ob er denn damit rechnet, dass plötzlich die Tür aufgeht und Julian Assange herausspaziert kommt, erwidert der Polizist: „Er würde ohnehin nicht weit kommen, wir haben ihn eingekesselt“. Er lächelt.

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