Am vergangenen Wochenende gab es in Minsk zum 15. Mal in Folge Sonntagsproteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Seit den Wahlen Mitte August, die manipuliert gewesen sein sollen, gehen die Menschen auf die Straße. Es kommt immer wieder zu Festnahmen. Frau Dryndova, warum halten die Protestierenden jetzt schon drei Monate durch?
Olga Dryndova: Die Proteste werden vor allem durch die eskalierende Staatsgewalt befeuert. Das heißt, die absolute Mehrheit ist nur auf den Straßen, weil sie die Repressionen mitbekommen haben. Es gab drei Repressionswellen. Die erste Eskalation direkt nach den Wahlen. Dann gab es eine zweite Welle ab Mitte September. Und jetzt die dritte Welle nach dem sogenannten Volksultimatum, das zu einem landesweiten Streik führen sollte. Diese Repressionswellen lassen die Emotionen der Menschen ansteigen. Die Menschen sind schockiert. Zum Beispiel über den Tod eines Mannes, der in seinem Nachbarschaftshof von anonymen Sicherheitskräften zu Tode geprügelt wurde. Dafür wurde bisher niemand zur Verantwortung gezogen. Nach so einem Vorfall kommen neue Gruppen zu den Protesten. Seit dem 9. August sind mehr als 30 000 Menschen verhaftet worden.
Trotz der Festnahmen lassen sich die Menschen nicht abschrecken?Viele, die schon verhaftet wurden, protestieren trotzdem weiter. Natürlich betrifft das nicht alle: Um aus der Haft entlassen zu werden, müssen die Festgenommenen ein Dokument unterschreiben. Mit dieser Unterschrift erklären sie sich darüber informiert, dass ihnen bei der nächsten Festnahme eine Strafverfolgung droht. Das bedeutet oft mehrere Jahre Gefängnis. Viele verschreckt das. Doch viele Menschen haben mehr Angst vor dem, was mit dem Land passieren würde, wenn sie aufhören würden zu protestieren, als davor, noch einmal verhaftet zu werden.
Welche sozialen Schichten sind auf der Straße?Wir sehen Vertreter aller sozialen Gruppen bei den Protesten. Seit mehreren Wochen gibt es einzelne Proteste von Rentnern, und auch Aktionen von Menschen mit Behinderungen. Eine sehr starke Gruppe, gerade am Anfang, bildeten die Frauen. Nach mehreren Wochen hat die Polizei jedoch angefangen, auch die Frauen auf brutale Weise festzunehmen. Und viele junge Menschen sind auf den Straßen. Sie bilden deswegen eine besondere Gruppe, weil sie durch das Internet international vernetzt sind und deswegen weniger Angst haben. Sie haben zwar noch nie einen anderen Präsidenten als Lukaschenko gesehen, aber gleichzeitig verbindet sie nichts mit ihm.
Man hört vor allem von Protesten in Minsk. Sind die Menschen vom Land weniger empört?Ganz im Gegenteil: Die Menschen aus den Regionen sind sauer. In Minsk konnte man vor den Wahlen immerhin noch gut leben. Der Gehaltsunterschied zwischen Minsk und den Regionen ist sehr groß, das war schon immer ein Problem. Hinzu kommt das Verhalten des Staates zu Corona vor den Wahlen. Die Menschen wurden nicht richtig informiert, es gab keine Quarantänemaßnahmen - das hat sie wütend gemacht.
Aber warum gibt es keine Proteste auf dem Land?Stimmt, große Proteste finden drei Monate nach den Wahlen fast nur in Minsk statt. Das war nicht immer so. In der Wahlnacht gab es auch in den kleinsten Orten Proteste. Die Menschen waren bereit, auf die Straße zu gehen, weil sie nicht zufrieden waren mit den Wahlergebnissen. Aber je kleiner der Ort ist, desto eher kennt man sich. Wenn jemand auf einem Foto oder in einem Video beim Protest zu sehen ist, verliert diese Person höchstwahrscheinlich ihren Arbeitsplatz. In den Regionen gibt es oft keinen anderen Arbeitgeber. Deshalb sieht man dort weniger Aktivismus.
Kann der Konflikt durch einen nationalen Dialog gelöst werden?Es gab den Versuch eines Koordinierungsrats der oppositionellen Mächte. Es kam aber nicht dazu, weil die Behörden diesen sofort als illegal eingestuft und ein Strafverfahren eingeleitet haben. Momentan gibt es sogar mehrere Strukturen der alternativen Kräfte, die versuchen, die prodemokratische Anti-Lukaschenko-Bewegung zu vertreten. Zum Beispiel, das Team von Swiatlana Zihanouskaja, oder die „Volksantikrisenverwaltung" von Pawel Latuschka. Beide befinden sich allerdings im Ausland.
Und wie reagiert Lukaschenko?Von staatlicher Seite ist geplant, eine Verfassungsreform zu initiieren, mit der man die Macht des Präsidenten einschränkt und dafür diese an das Parlament und die lokalen Behörden geben würde. Was hier problematisch ist: Es wird nicht versucht, mit den alternativen Kräften in den Dialog zu treten. Über die Reform wird mit staatsfreundlichen Strukturen gesprochen. Wenn der Staat versucht, diese Reform durchzuziehen, ohne dass die Menschen sich zugehörig fühlen, dann kann es erneut Proteste geben. Die Menschen haben kein Vertrauen mehr zum System nach den Wahlen. Die staatliche Seite ist auch nach drei Monaten des Protests immer noch nicht bereit, die Kraft, die auf der Straße ist, als politisches Subjekt wahrzunehmen.
Was sieht dann die Lösung aus?Ich sehe keine Lösung solange Lukaschenko an der Macht bleibt. Das Problem ist, dass die Sicherheitskräfte ungestraft Menschen töten. Es gab seit dem Anfang der Proteste mindestens vier Todesfälle, bei denen keine Untersuchungen stattfanden. Das Rechtssystem funktioniert also nicht. Es hat vorher zwar auch schon nicht funktioniert, aber die Menschen hatten trotzdem das Gefühl, dass sie vor der Kriminalität auf den Straßen geschützt sind. Jetzt kommt diese Kriminalität direkt vom Staat. Früher gab es zwar eine Autokratie, aber einen offensichtlichen Polizeistaat mit so viel Gewalt gegen Bürger gab es nicht. Die Unzufriedenheit und die Empörung der Belarussen werden nicht nachlassen.
Also sieht die Zukunft weiter düster aus?Kurzfristig wird es schlimmer. Die jetzige Situation sorgt nicht dafür, dass sich das Land wirtschaftlich entwickelt. Außerdem muss der Sicherheitsapparat finanziert werden. Die Prognosen der Wirtschaftsexperten in Belarus zeigen, dass es eine neue Wirtschaftskrise geben wird. Wenn es dazu kommt und die Menschen noch weniger Gehalt bekommen, dann können wir mit einer weiteren Welle von Protesten rechnen, die eine andere Natur haben wird. Diese Proteste werden nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich motiviert sein. Das wird schlimmer für den Staat, denn die Menschen werden nichts mehr zu verlieren haben. Der finanzielle Faktor hält Menschen in Regionen momentan noch von den Protesten ab. Wenn dieser Faktor entfällt, kann es noch mehr eskalieren.
Das Gespräch führte Frieda Ahrens.