"Monsieur Villeret, ich habe ein paar Fragen vorbereitet, die würde ich Ihnen jetzt gerne einfach stellen." Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortet der 92-Jährige: "Mademoiselle, wissen Sie, Sie sind die zweite Deutsche, die mich interviewt. Der erste Deutsche war ein Offizier der Gestapo." Dann kommt ein Lächeln. "Aber offen gesagt ist es mir lieber, von Ihnen befragt zu werden, als von der SS."
Es ist nicht nur der schwarze Humor, der einem zum Staunen bringt, wenn man diesem alten Mann gegenüber sitzt. Jean Villeret erzählt aus seinem Leben mit solcher Inbrunst und ohne lange Denkpausen, dass man sich etwas besorgt fragt, was passiert, wenn Menschen wie er nicht mehr da sind, um von der deutschen Hölle zu erzählen. Denn Jean scheint sich an jeden Tag seines Lebens zu erinnern. Kein Wunder, seit 70 Jahren hält er die Erinnerung wach: Er geht immer noch - wie viele andere Überlebende - in Schulen und zu Vorträgen, um seine Geschichte zu erzählen.
Kurz gefasst geht die so: Im Januar 1944 wird er im Alter von 22 Jahren in Paris von der französischen Polizei festgenommen, weil er bei den Francs-tireurs et partisans (FTP), einer Widerstandsorganisation der französischen Résistance, gegen den Nationalsozialismus kämpft. Im Februar '44 wird er der Wehrmacht übergeben, seine Internierung beginnt im Pariser Gefängnis Frèsnes, wo er am 15. März (dieser Tag kommt von Jean wie aus der Pistole geschossen) von der Gestapo verhört wird.
Er hört auf, Jean Villeret zu heißen. Seine Häftlingsnummer lautet 19410Von dort wird er im Juli mit 61 weiteren Widerstandskämpfern heimlich durch den "Nacht-und-Nebel-Erlass" ins Konzentrationslager Natzweiler-Struthof verschleppt. Er hört nun auf, Jean Villeret zu heißen. Seine Häftlingsnummer lautet 19410. Durch den Vormarsch der Alliierten evakuieren die Nazis die Insassen des Lagers Struthof im September 1944. Jean wird ins KZ Dachau transportiert, wo er bis zur Befreiung durch die Amerikaner am 29. April 1945 inhaftiert bleibt. Der Franzose erinnert sich an jedes Detail.
Und bevor die Autorin überhaupt zu ihren Fragen kommt, ist bereits fast eine Stunde vergangen. Dabei hätte es beinahe nicht geklappt mit dem Treffen. Es ist ein Dienstag im Januar. Zur vereinbarten Uhrzeit macht niemand die Tür auf in dem kleinen Reihenhäuschen in Alfortville, einem Vorort zehn Kilometer südöstlich von Paris. Auch ans Telefon geht niemand.
Nach eineinhalb Stunden und einem großen Spaziergang durch das Stadtzentrum geht die Haustür schließlich doch noch auf. Gerade sei er vom Einkaufen zurückgekommen und doch felsenfest davon überzeugt gewesen, dass die deutsche Journalistin erst am Mittwoch kommen würde. "Das Alter", entschuldigt sich Jean Villeret etwas beschämt.
"Möchten Sie einen Tee, ma chère?", fragt er und setzt sich auf die lange Holzbank an den Esstisch des Wohnzimmers. Vor ihm steht ein Tablett mit Wasser, Tee und Keksen. Er selbst wird in den kommenden zweieinhalb Stunden kaum mehr als einen Schluck Wasser zu sich nehmen, geschweige denn einen Keks essen. "Ich konnte jahrelang nichts auf dem Teller liegen lassen, mittlerweile ist das etwas anders", murmelt er.
Seine wenigen Haare hat er unter einer olivgrünen Schiebermütze versteckt, seine Augen schauen aufmerksam hinter der Brille hervor. Wenn er gestikuliert, was sehr oft vorkommt, dann spricht Jean trotz seiner 92 Jahre und den gelegentlich aufkommenden Hustenanfällen sehr lebhaft.
"Der Struthof war das Auschwitz in Frankreich", sagt Jean. "Das Schlimmste waren die Strapazen, die ständige Erschöpfung. Und der Hunger. Hunger ist etwas ganz Entsetzliches." Dabei kneift er die Augen zusammen. Welche Bilder ihm wohl gerade durch den Kopf gehen. "Manch einer konnte nur überleben, weil wir, seine Kameraden, ihm bei jeder Mahlzeit noch ein kleines Stückchen Brot zusätzlich gaben." Überhaupt sei Solidarität mit den anderen Häftlingen das gewesen, was die Menschen zum Durchhalten bewegte, was ihnen Mut machte.
250 Menschen wurden im Schnitt jeweils in einer von insgesamt 17 Baracken zusammengepfercht. 1944 waren es bis zu 600. Viele ehemalige Häftlinge werden später erzählen, dass sie niemals auf dem Rücken schlafen konnten, jahrelang. Und trotz der Willkür und ständigen Prügelattacken der Nazis hat Jean niemals an eine Flucht gedacht. "Das war viel zu gefährlich." Aus dem Lager zu entkommen, war nahezu unmöglich.
Einige wenige versuchten es dennoch, erinnert sich Jean. "Ein Häftling grub während der Arbeit im Steinbruch ein Loch in die Erde und bedeckte sich mit Gras. Er blieb die ganze Nacht in seinem Versteck. Beim Morgenappell, der mit größter Sorgfalt abgehalten wurde (manchmal standen wir vier Stunden in der Kälte, weil die Nazis falsch zählten), fiel der Fehlende auf. Nachdem er gestellt und tagelang gefangengehalten wurde, ›durfte‹ er ausnahmsweise wieder im Lager arbeiten." Ausreißer wurden normalerweise sofort erschossen oder erhängt.
"Es ist mein Leben. Auch ich habe ein Recht darauf, glücklich zu sein"Auf der Kommode hinter Jean stehen eingerahmte Fotos, die sein früheres Leben zeigen, umgeben von kitschigem Weihnachtsschmuck. Lametta schlängelt sich um Topfpflanzen, ein Keramik-Weihnachtsmann klettert die Schranktür hoch, und ein großer Tannenbaum leuchtet vor dem Kamin. Es ist ein bisschen so, als ob man gerade erst zwischen den Feiertagen hier säße, und nicht in der dritten Januarwoche.
"Wegen der Enkelkinder, es waren noch nicht alle da, um ihre Geschenke abzuholen", erklärt Jean und seine Augen wirken auf einmal noch glasiger. Nachdem seine Frau starb, heiratete er mit 80 Jahren noch einmal, Nicole ist zehn Jahre jünger als er. Das haben zwei seiner drei Kinder nicht verkraftet. "Sie haben den Kontakt zu mir abgebrochen, seit zehn Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen." Das schmerzt. "Aber was soll ich machen", sagt er, "es ist mein Leben, und auch ich habe ein Recht darauf, glücklich zu sein."
"Stellen Sie Ihre Fragen! Was wollen Sie noch wissen?" Wann er richtig Angst um sein Leben hatte. "Ich hatte eigentlich nie Angst, in den Lagern zu sterben. Ich hatte Angst, bei den Bombardements zu sterben. Aber dann, als ich 1945 in Dachau Typhus bekam, da dachte ich, jetzt geht es mit mir zu Ende." Es kam anders. Viele seiner Kameraden aber sind schon lange tot.
Jean Villeret könnte sich auch einfach zur Ruhe setzen und die Vergangenheit ruhen lassen. "Das geht nicht. Es ist mir unmöglich, das alles zu vergessen. Jeden Tag muss ich daran denken", sagt Jean, während er der Autorin ernst in die Augen schaut: "Ich mache mir wirklich Sorgen um Ihre Zukunft. Es ist mal wieder nicht gut bestellt um die Welt, um den Frieden. Sie, die jungen Menschen, dürfen niemals aufhören, für die Freiheit zu kämpfen."
Original