Zahlreiche jüdische Münchner haben den bayerischen Fußball, bayerische Trachten und bayerisches Bier weltweit berühmt gemacht. Doch wo lässt sich jüdische Kultur heute in der Stadt erfahren?
Von Franziska Horn • 12.11.2020, 18.57 Uhr
"Schalömchen" - Hallöchen, steht ganz oben auf der To-Go-Menükarte. So begrüßt Florian Gleibs die Gäste seines arabisch-jüdischen Restaurants Meschugge. Jetzt steht er hinter dem langen Tresen des beinah leeren Lokals. An der Schmalseite hängt ein Porträt von "Rabbi Jacob", oder eher: von Komiker Louis de Funès in seiner Paraderolle von 1973.
"Einmal 'Abu Chassa' bitte", sage ich, das ist ein arabischer Vorspeisenteller mit Humus, Falafel und Baba Ganoush. Und dazu ein Interview, bitteschön. "Ach nö, nicht schon wieder solche Judenfragen!", sagt Gleibs. Sein Restaurant liegt an der Brienner Straße in der Maxvorstadt, ein paar Hundert Meter weiter an derselben Straße befand sich die ehemalige Parteizentrale der NSDAP.
Auf Hebräisch ruft Gleibs meine Bestellung in die Küche. Am offenen Durchgang erscheint Koch Ibrahim, ruft auf Hebräisch zurück. "Ibrahim ist Palästinenser, hat einige Jahre in Tel Aviv gelebt. Und er steht voll auf Israel und auf Netanyahu!", sagt Gleibs und grinst. "Jetzt schmeißen wir hier zu zweit den zweiten Shutdown." Gleibs selbst ist 1971 in Berlin geboren, seine Familie stammt von arabischen Juden aus Bagdad ab. In München wird er immer wieder "Szenegastronom" genannt, bis 2016 führte er das Restaurant Schmock - Jiddisch für Depp - in der Augustenstraße. Das ist gleich ums Eck und sei lange "die Judenstraße gewesen, mit einem Pfandverleiher und einem Juwelier", erzählt Gleibs.
Rund 16 Jahre war das Schmock eine Institution: mit gehobener israelischer Küche, mit Davidstern auf den Markisen, mit einer Klagemauer zum Wunschzettel-Abgeben. Und mit provokant-ironischem Marketing: "Deutsche, trinkt bei Juden", ließ Gleibs in Frakturschrift auf die schwarz-weiß-roten Etiketten seiner koscheren Weine drucken. Dazu verkaufte er "Judenbeutel" und rief IS-freie Wochen aus: Auf der Speisekarte gab es dann kein "is" mehr, also beispielsweise nur noch "rael che Vorspe en".
2016 schloss Gleibs das Schmock und eröffnete in Laufweite das Meschugge. Der Grund: "Es gab Anrufe, Beleidigungen, verbale Übergriffe", sagt er. Während des Gazakonflikts 2014 wurde es richtig schlimm: "Die Gäste nahmen mich quasi in Sippenhaft und wollten ständig über Israel-Politik diskutieren. Dabei will ich doch eigentlich nur Falafel verkaufen", sagte er Anfang 2018 in einem Rundfunkinterview. Mit dem Meschugge sind "wir hier im Verbund mit dem Volkstheater nebenan, im Hinterhof und etwas geschützter, nicht direkt an der Straße und fallen weniger auf", sagt er mir.
München und der Antisemitismus, diese Geschichte war mit dem Ende der Stadt als "Hauptstadt der Bewegung" längst nicht abgeschlossen. Man denke an die Attentate von 1970 am Flughafen und auf ein jüdisches Altenheim, 1972 das Attentat bei den Olympischen Spielen. 2003 wurde ein Sprengstoffanschlag von Rechtsextremisten bei der Grundsteinlegung des geplanten jüdischen Gemeindezentrums verhindert.
Im Umfeld der Corona-Verschwörungstheorien erstarkt der Judenhass gerade bundesweit, besonders auffällig aber im Süden der Republik: Laut der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) ist Bayern dasjenige Bundesland mit den meisten Übergriffen auf jüdische Mitbürger. Wen wundert es, dass das Leben jüdischer Münchner längst wie in einer Art Parallelgesellschaft stattfindet: in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) etwa, die gerade ihr 75-jähriges Bestehen feiert.
Wo ist jüdisches Leben sichtbar?Wo aber kann man in München noch jüdischer Kultur begegnen? 2006 wurde die Ohel-Jakob-Synagoge am St.-Jakobs-Platz geweiht. "Dieser Neubau hat ein starkes Zeichen gesetzt", sagt Maximilian Bukszpan, "schließlich wurde 1938 die große Synagoge in der Herzog-Max-Straße als erste zerstört, noch vor der Reichskristallnacht." Bukszpan ist Münchner, Jahrgang 1956 und zertifizierter Gästeführer der Stadt.
Seine Führung über das "Jüdische Leben in München" beginnt vor der Synagoge, nebenan liegt das IKG-Gemeindezentrum mit Grundschule, Gymnasium und dem koscheren Restaurant Einstein, geschützt durch Sicherheitsglas, durch Schleusen und strenge Ausweiskontrollen. Massive Betonpoller sichern die Zufahrt, ein Polizeiwagen wartet einsatzbereit. Auch eine Gruppe junger Männer steht vor dem Zentrum. "Ehemalige Soldaten der israelischen Armee, die während der Öffnungszeiten die Sicherheit erhöhen", erklärt Bukszpan.
"Bis 1933 war das Judentum etwas Etabliertes", sagt Bukszpan. Auf unserer Tour durch die Altstadt begegnen wir überall Spuren jüdischer Unternehmer, Politiker, Bankiers, Schriftsteller, Philosophen und Künstler. Buskszpan zeigt an der Ecke Oberanger/Rosental auf ein Schild für das Kaufhaus Uhlfelder, das einst den ganzen Block einnahm. In der Nacht auf den 10. November 1938 wurde es zerstört und wie andere jüdische Kaufhäuser arisiert - Konen, Hertie und Hirmer. Das ist vielen bekannt. Überraschend dagegen ist sogar für viele Einheimische, wie sehr jüdische Münchner die bayerischen Nationalheiligtümer prägten: Bier, Fußball und Trachten.
Löwenbräu: Von jüdischem Brauer vor dem Bankrott gerettetKurt Landauer war es, der als Präsident 1932 den FC Bayern zur ersten Deutschen Meisterschaft führte. 1939 musste er in die Schweiz fliehen, kehrte aber 1947 in seine Heimatstadt zurück und baute den Verein noch einmal neu auf. Der jüdische Brauereibesitzer Joseph Schülein von der Unionsbrauerei Schülein & Cie. rettete die Löwenbräu AG, damals größte Brauerei Münchens, vor dem Bankrott, bevor die Nazis in den Zwanzigerjahren begannen, gegen das "Judenbier" zu hetzen. Die Ausstellung "Die Juden und das Bier"erinnerte 2016 im Jüdischen Museum München an die jahrtausendealte israelitische Tradition des Bierbrauens.
Noch bis ins Jahr 2004 existierte das einstmals jüdische Trachtenhaus Eli Wallach in der Residenzstraße 3. Im Jahr 1900 als Volkstrachtenhaus Wallach gegründet, ließen die Brüder Wallach ihre Dirndlstoffe per Hand bedrucken. Historische Quellen besagen, dass das bei Nationalsozialisten so beliebte "deutsche Dirndl" seinen Durchbruch den Brüdern Wallach verdankte.
Wer heute mehr über jüdische Kultur erfahren will, kann in der israelischen Grillbar Eclipse in der Heßstraße, in jüdischen Lokalen wie im Nana in Haidhausen oder im Neni im 25Hours Hotel am Hauptbahnhof speisen. Wer mehr über die Münchner Juden wissen will, muss ins Museum oder ins Geschichtsbuch schauen. Oder mit den Kindern der letzten Zeitzeugen reden: Ende September starb Chaim Bukszpan, Maximilians Vater, als einer der letzten Shoa-Überlebenden im Alter von 97 Jahren.
Chaim hatte vier Konzentrationslager überlebt, darunter Buchenwald und das polnische Lager Plaszow, wo der für seine brachiale Gewalt bekannte Lagerleiter Amon Göth wütete (dargestellt von Ralph Fiennes in Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste"). Max Bukszpan erzählt: "Mein Vater hat lange nicht über diese Zeit gesprochen. Später sagte er zum Beispiel, dass große KZ zum Überleben besser waren als die Außenlager, weil sie mehr bauliche und logistische Strukturen hatten."
Hans-Albers-Villa als BegegnungsortAuch Ruth Meros, 1922 in München geboren, starb im April. Ihre Tochter Gabriella Meros, in Israel geboren, verbrachte im Sommer viele Nachmittage auf dem Neuen Jüdischen Friedhof nahe der Ungererstraße. "Um die Gräber vom Unkraut freizuschneiden", sagt sie. Von der Stadtverwaltung kümmere sich niemand darum. Meros ist Fotografin und auf Berühmtheiten spezialisiert, vor allem die in Hollywood. Ihre Mutter war mit ihrer Familie 1939 nach Palästina geflohen und lebte später mit Mann und Tochter Gabriella abwechselnd in München und Tel Aviv.
Wer reden und zuhören möchte, findet bei Gabriella Meros offene Türen: Sie hat den Verein Respect & Remember Europe e.V. mitgegründet. Wie früher ihre Mutter geht sie in Schulklassen, um aufzuklären. "Mit Fanatikern zu sprechen, macht keinen Sinn. Wir müssen mit jungen Menschen sprechen, die offen und empathiefähig sind", sagt sie. Aktuell plant sie mit ihrem Verein, die Hans-Albers-Villa am Starnberger See zu einem deutsch-jüdischen Erinnerungs- und Begegnungsort für Toleranz zu machen. Hier in Garatshausen lebte der Hamburger Schauspieler ab 1935 zusammen mit seiner jüdischen Lebensgefährtin Hansi Burg, getrennt nur während Burgs Londoner Exilzeit.
Eine Liebe mit Symbolkraft, meint Meros. "Ein christlich-jüdisches Paar, das nach dem Holocaust wieder zueinander fand. Es soll ein lebendiger Erinnerungs- und Begegnungsort werden", sagt sie, "mit Workshops für Jugendliche, über Demokratie, Antisemitismus und Zivilcourage. Mit Konzerten, Lesungen und Ausstellungen. Und mit Film-Events: Wir würden gern ein bisschen Hollywood in die Albers-Villa holen."
So wie damals, als Marlene Dietrich, Jean Gabin oder Romy Schneider bei Hans und Hansi am See zu Gast waren. "Gerade für Bayern wäre dieses Projekt ein Fanal mit Strahlkraft", sagt Meros. Es wäre wohl Deutschlands erstes christlich-jüdisches Kulturprojekt dieser Art. Eines, das Begegnungen ermöglichen und jüdisches Leben wieder sichtbarer machen würde - auch vor den Toren Münchens.
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