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Danke schön, Schneewittchen

Mal kommen wilde Tiere vorbei, mal kommt der Regen herunter. Doch die Kanadier sagen immer bloß: "Wir sind relaxed!". Begegnungen in Québecs wilden Wäldern und auf Inseln inmitten des St. Lorenz-Stroms. 


Von Franziska Horn  


Am Anfang zeigt sich das weite, wilde, wasserreiche Kanada noch ganz zivilisiert. Von Frankfurt waren wir über Montreal nach Mont Joli geflogen, wohl der winzigste Flughafen Ka- nadas. Hier ist das Land flach, die Luft riecht nach Salz, und als wir endlich am Kiesstrand des großen Sankt-Lorenz- Stroms standen, wirkte er breit wie ein Meer. Kein Nordufer zu sehen. Das Road-movie konnte beginnen. Das Ziel? Ein ausgedehnter Streifzug durch Québec Maritime, viermal so groß wie ganz Frankreich. Das Autoradio spielt melodische Klänge der Inuit-Sängerin Elisapie Isaac, als wir Matane ansteuern, eine von vielen Statio- nen des Lighthousetrails rund um die Halbinsel Gaspésie. „Gaspésie heißt ,Ende der Welt‘, so nannten die Ureinwohner vom Stamm der Mi’kmaq ihr Land“, erklärt Étienne Fiola, unser Begleiter. Hier am großen Strom ist Étienne zu Hause, und erst recht in der Natur. Als freiwilliger Rettungshelfer von „La Boussole – Recherche et Sauvetage en fôret“ ist er ausgebildet, sich in den endlosen Wäldern zurechtzufinden. Aber für uns gibt es zu diesem Zeitpunkt natürlich keinen Grund, zu glauben, dass wir im Laufe der Reise noch auf seine „special skills“ angewiesen sein werden.

Ein Leuchtturm in Rotweiß, ein langge- zogenes Dorf kleiner Häuschen: das ist Ma- tane, berühmt für seine Crevetten. Die tes- ten wir bei einem üppigen Dinner im Hotel Riotel direkt am großen Wasser. Langsam lüftet sich draußen der Nebelschleier, ein sphärischer Sonnenuntergang taucht die Szenerie in Pinkorange – ein gutes Omen? Am Morgen fahren wir ostwärts die Küste entlang, vorbei an normannischen Spitzkir- chen aus Stein und geschindelten Häusern, an riesigen Scheunen in Grau, Weiß und Rot bis zum katzenförmigen Felsen und Leuchtturm von Cap-Chat. „Wir Kanadier sind relaxed. Niemand schließt hier seine Haustüren ab, und die Nachbarn passen ge- genseitig auf sich auf“, erzählt Étienne un- terwegs. In Cap-Chat sagen wir der Welt der Straßen, Scheunen und Supermärkte adieu. Es wird spannend.

Mehr als eine Stunde sind wir auf einer Schotterpiste unterwegs, die tiefer und tiefer ins waldige Revier der Elche, Bären und Coyoten führt. Angestrengt starren wir ins Halbdunkel dichtstehender Birken, Kiefern und Fichten – und es drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie solch ein Elch überhaupt durchs Dickicht kommt mit seinen Schaufeln, breit wie ein Brett vorm Kopf. „Sie legen das Geweih zurück, so geht es leichter“, grinst Fachmann Étienne und berichtet von der großen Population hier im Nationalpark Gaspésie, in dem sich drei Exemplare pro Quadratkilometer tummeln. Schwärme von Schmetterlingen fliegen auf, als wir den breiten Cap-Chat River mit seinen Lachsen und Forellen passieren und ins steile Bergland verschwinden.

Mitten im Nirgendwo lugt die Auberge de Montagne des Chic-Chocs auf sechshundert Metern Höhe von einer Bergschulter ins Tal. Nichts als Baumwipfel rundherum, versteckte Seen, Wasserfälle und die sanften Sinuslinien der Chic-Choc-Berge. Outdoorguide Monia Fiset hat Abenteuertourismus studiert, jetzt allerdings führt sie uns erst einmal durchs Haus, ein komfortables Berghotel mit vielen Extras, jedoch ohne Nabelschnur ins Digitale: „Ganz bewusst gibt es bei uns kein Telefon, kein TV, kein W-Lan. Im Klartext: keinen Kontakt nach außen. Dafür Wanderungen in alle Richtungen.“ Das öffnet den Raum für echte Begegnungen – mit Menschen wie mit Tieren.

„Für die Natur braucht es ein paar Regeln“, erklärt sie. Die erste: Nie ohne Walkie-Talkie alleine in die Wildnis ziehen. „Damit wir immer wissen, wo ihr seid.“ Gegessen wird gemeinsam an den langen Tischen – die höchstens sechsunddreißig Gäste, Guides und Personal. Das schafft Augenhöhe und zeigt: Hier draußen im Wald sind alle gleich. Diese Einstellung setzt sich beim Essen fort, das nicht tellerweise, sondern in großen Schüsseln auf den Tisch kommt – ohne Abstriche beim Niveau: Koch Alain Laflamme wird zu den besten der gesamten kanadischen Zunft gezählt, und Manager Guy Laroche bestellt seine Spitzenweine in Europa.

Vor der Auberge wartet schon Senior Guide Jacques im beigen Parkranger-Outfit mit Hut. Jacques Bouffard ist ein ruhiger Mittsechziger mit hellwachen Augen, Lachfältchen und weißem, sorgfältig gestutztem Vollbart. Ein Typ, so vertrauenerweckend, dass man ihm frag- und klaglos in die gottverlassensten Ecken der Erde folgen würde. Doch erst mal geht es auf den Nachbarhügel zur Erkundungstour. Jacques schlägt einen steilen Pfad ein, bis er kleine runde Elchköttel am Wegesrand findet. Einen bricht er mittendurch und vergleicht das Innere mit der Hinterlassenschaft von Coyoten, die nicht weit davon liegt. Artig schauen wir uns das an bis ins Detail hin – und lernen: Die Wildhunde schlucken viel unverdauliches Haar, das sich zu Knäueln ballt, Elche tun das nicht.

Derart gebrieft, achten wir jetzt genauer auf jene Zeichen, die die heimlichen Herren der Wildnis setzen. Und bald können wir auch – das ist Jacques wichtig – die Namen all der Berge um uns herum aufsagen, vorwärts wie rückwärts: Coleman, Collins, Mont Nicol-Albert, Notre-Dame und Matawee. Die Appalachen, erklärt Jacques, zudem Filmemacher und Extremalpinist, seien die ältesten Berge der Welt. Doch sein Lieblingsthema ist der Elch. Er nennt ihn das Phantom der Wälder, geheimnisvoll, scheu und neugierig zugleich. „Ein Tier mit Charakter.“ Dann ruft er: „Et voici nous avons le Krummholz typique“, und zeigt ins krüppelige Buschwerk der Bergflanken. Wie bitte: le Krummholz? Die Kanadier greifen auf deutsches Wortgut zurück, um ihr Nationalheiligtum Wald zu erläutern? „Doch, tun wir“, grinst Jacques und kommt umweglos zurück auf den Elch. „Wir nutzen die Intelligenz der Tiere oder wenigstens ihre Gepflogenheiten, denn alle Wege hier beruhen auf alten Elchpfaden.“ Die meisten der Tiere kennt er seit vielen Jahren, er hat ihnen Namen gegeben, kann sie nach Größe und Form der Schaufeln unterscheiden. Elche dürfen hier nicht gejagt werden. Es scheint, als ob die Tiere das wüssten.

Ein Teppich von Quatre-temps mit weiß leuchtenden Blüten über grünen Blättern deckt den Waldboden, als wir nachmittags zum Wasserfall absteigen. Wie im Dschungel surren Kolibris durch die Wipfel, Frösche mit Camouflage- Zeichnung hüpfen zur Seite, in der Ferne leuchtet Riesenfarn. Hoch über einer Fels- wand bricht ein Wasserfall siebzig Meter wie aus dem Nichts kommend ins Tal, Gischt stiebt auf. Die Chute Hélène ist die lauteste Attraktion im Revier. Auf dem Rückweg mischt sich Donnergrollen nahtlos ins Rauschen des Wassers. Dunkle Wolken türmen sich über den Wipfeln. Aber es ist noch eine Stunde Rückweg bis zur Lodge, steil bergwärts – wir schauen uns fragend an. Schon fallen erste Tropfen. Wir rennen los, keuchend den Hang hin- auf, streifen im Laufen die Hardshells über. Keiner spricht. Sekunden später schüttet es. Wir hasten weiter. „Stop!“, ruft Étienne plötzlich und schleudert eine rote Rettungsdecke über einen gekippten Baumstamm. Zu viert kauern wir uns in das kleine Notbiwak, rücken zusammen wie Champignons. Um uns herum springen Blitze, zerschnitten von heftigem Krachen. Das Gewitter rückt näher. „Find ich nicht komisch“, raunt Pia. Wir beruhigen sie, sagen, dass Blitze hier in den Bergen und Bäumen zahlreiche höhere Punkte zum Einschlagen finden. Und wissen selbst nicht, ob wir daran glauben sollen.

Doch als wir meinen, der Regen ließe nach, legt er erst richtig los. Wir stehen jetzt im Zentrum der Zelle. Sehr viel näher können wir Kanadas ungestümer Natur nicht kommen als in diesem Moment. Mit Lieblingshits von Bowie und Morrison singen wir a cappella gegen das Krachen an und finden: Die Situation hat was! Und leise schleicht sich ein diffuses Gefühl ein: Bis jetzt waren wir eine kleine Reisegruppe. Von sofort an sind wir ein Team. Eine Schicksalsgemeinschaft, al- lein und weit draußen in den weiten Wäldern Kanadas. Als alles Warten und Singen nichts hilft, greift Étienne zum Funkgerät. Sofort schickt Manager Guy eine Rescue-Team auf Allterrain-Quads los, um uns zu holen. Doch zum nächsten Wen- deplatz ist es noch ein Stück. Auf Kommando rennen wir los. In den Senken steht das Wasser knöcheltief, als wir mitten hindurchpreschen. Da, endlich, Jacques und Isaac mit ihren VTTs. In wei- ten Serpentinen knattern wir den Forstweg hinauf, meterweit spritzen Matsch und Wasserfontänen zur Seite. Mit fettem Grinsen laufen wir in der Lodge ein, jede Faser am Körper nass. Wassertaufe bestanden!

Draußen hängen die Nebelschwaden dampfend über den Bergen, noch immer rauscht der Regen. Drinnen brennt Feuer im großen Kamin. Koch Alain trägt Arctic Char und Hirsch- Steaks auf. Nach dem Dessert zupft Jacques ein paar Lieder auf der Gitarre, ein letztes Glas Rotwein, dann fallen wir in die Betten.

Die Wege voll Wasser, wandern wir in der Morgensonne zum lauschigen Lac Bar- barin, auf dem wir in Kajaks hinüber zu den Seerosen paddeln und zum kunstvol- len Biberstaudamm – doch weit und breit kein Elch. Und noch ein Ausflug, ein letz- ter. Weiße Wolkenfetzen toben über den blitzblauen Himmel, der Farn schimmert neongrün – dann: „Un orignal!“, zischt Étienne. Wirklich, da steht er, ein bewegungsloser Schatten hinter den Stämmen. Der erste Elch! Live. Auge in Auge. Welch ein Tag. Geduckt pirschen wir seitwärts ins Holz. Die Sonne lässt das kastanien- braune Fell des Tiers aufglänzen. Große sanfte Augen, eine ellenlange Schnauze, ein Meter achtzig hoch. Mindestens. In der Erinnerung noch um einiges größer. Kameraschuss. „Das ist Blanche-Neige, ch erkenne sie an den hellen Haaren um die Schnauze“, sagt Jacques. Danke, Schneewittchen, flüstern wir. Als ob sie verstanden hätte, senkt die Elchkuh den schweren Kopf, dreht bedächtig ab und verschwindet wie ein sanfter Riese geräuschlos in den Schatten des Waldes.

Beseelt kehren wir zur Lodge zurück. Wieder ist es die Natur, die uns hart in die Realität katapultiert. Dieses Mal in Form von Mosquitos und „Black Flies“, schwarzen Stechfliegen mit Mikroskalpell. Mit festem Biss durchdringen sie Stoff und Haut. Es ist zum Verrücktwerden. Und doch ist es nur ein kleiner Obolus für die gewaltige Natur um uns herum. Mit Gelassenheit und Nachhilfe aus der Repellant-Sprühdose verweisen wir die Biester endlich in die Schranken. Später, gegen Mitternacht, steht draußen vor der Lodge der zweite Elch des Tages im Vollmondschein, ein Teenie mit pubertärem Geweih. Eine halbe Stunde lang schleckt er hingebungsvoll an einem Salzstein, bevor er in die Nacht zurückkehrt.

Hasen flitzen über die Schotterpiste, als wir an die Küste zurückkehren. Vorbei an der Ferme Rioux, wo sich Robben in den weiten Buchten sonnen, bis nach Rivière-du-Loup. Von dort setzen wir per Boot zur wilden Île aux Lièvre mitten im Sankt-Lorenz-Strom über – fünfundvierzig Minuten Fahrt. Dreizehn Kilometer lang und fast so schmal wie ein Landestreifen, gibt es hier nichts als einen hübschen Leucht- turm und versteckte Hütten für die weni- gen Touristen. Bekannt ist die Insel für ihre Population von Eiderenten, die an den Küsten brüten. Sie liefert ein sehr ge- fragtes Luxusgut: Die besonders warmen Daunen sind die teuersten der Welt, tau- send Dollar kostet das Kilo, weshalb es eine Steppjacke erst für dreitausend, eine ganze Steppdecke sogar erst ab zehntausend Dollar gibt. Am Bootsanleger wartet Jean-François Giroux, Ornithologe und Biologie-Professor aus Montreal. Dane- ben arbeitet er ehrenamtlich für die Duvetnor, eine Organisation, die den Enten ge- wissermaßen unter die Flügel greift, um ihren Lebensraum zu schützen.

„Während der Brutzeit nehmen wir die Hälfte der Daunen aus dem Nest, reinigen sie und verkaufen sie. Mit dem Erlös erhalten wir diese Insel als Reservat und Heimat der Eiderenten.“ Während Jean-François erzählt, wandern wir in weiten Schleifen über das naturbelassene Eiland, auf der sich blaue Iris im Wind wiegt und silbern schimmernde Robben auf den vorgelagerten Felsbänken aalen – untermalt von den markant-melodischen Tonfolgen von Sparrow und Vireo, Sperlingsvögel aus Nordamerika.

Auch Jean-François macht deutlich, wie sehr diese Menschen hier die Natur als ihr größtes Kapital begreifen und des- halb alles tun, um sie zu schützen. Und dann sind wir auf den letzten Metern ebendieser Natur mal wieder ungeschützt ausgeliefert. Eine ganze Armee von piek- senden Quälgeistern sirrt uns um die Oh- ren. „Es ist Mücken-Happy-Hour“, sagt Jean-François, ohne auf die Uhr zu schauen. „Sie dauert von siebzehn bis neun- zehn Uhr.“ Wir werden sie überleben. Diese beiden Stunden. 


Erschienen am 28. September 2017 im Ressort Reiseblatt der FAZ. 

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