"She's crazy" – kopfschüttelnd sitzen einige Zuhörer den großen Vortragsaal des International Mountain Summit (IMS) in Brixen 2013. Auf der Bühne steht eben eine der weltbesten Solo-Kletterinnen und erzählt von ihrem Leben in der Steilwand. Doch Fotos und Erzählungen bringen nur bruchstückhaft herüber, was diese Frau wirklich tut. Sílvia Vidal ist 1,59 Meter groß und stammt aus Barcelona, ihre Spezialität: Solobegehungen harter Technorouten und das vorzugsweise an den entlegensten Wänden der Erde. Allein, das heißt bei Silvia Vidal: Wirklich allein, auf sich gestellt, ohne Kommunikationsmittel nach außen. Die Frau und die Wand. Nur auf sich selbst und eigene Kraft und Können vertrauend, nur von der eigenen Entscheidung ab"hängend" – buchstäblich. Dieses gezielte "sich aussetzen", sich exponieren, in überdimensionalen Steilwänden und bis zu 32 Tage am Stück im Portaledge übersteigt das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen. Was sucht und findet sie dort oben, das sie woanders nicht findet? Wir haben sie gefragt. Da sie ein mündliches Ferngespräch kategorisch ausgeschloss, haben wir uns – entgegen journalistischer Grundsätze – auf die Regeln von Señora Vidal eingelassen, die sich einzig zu einem schriftlichen Interview bereit erklärte. So oder gar nicht. Volle Kontrolle über das eigene Wort zu behalten, ist die Intention dahinter. Das steht im spannungsvollen Kontrast zum hohen Risiko und zur Unberechenbarkeit einer wilden Natur, die sie auf ihren Expeditionen nach Indien, Alaska oder Chile sucht – und findet. Eine Haltung und Konsequenz, die sie an Orte bringt, die nie zuvor ein Mensch berührt hat.
Bitte gib uns eine kurze Biografie Deines Lebens und Deiner Kletterkarriere – wann und wie hast Du begonnen zu klettern – und warum?
Ich stamme aus Barcelona, bin 1970 geboren und habe PE studiert (Physical Education / Sportlehrerin). Zum allerersten Mal bin ich 1992 geklettert, aber richtig angefangen habe ich erst 1994. 1992 hatte ich als Mitglied eines Teams meiner Universität an einem Multisport-Wettbewerb teilgenommen, mit Disziplinen wie MTB, Rafting, Klettern und Orientierungslauf. Klettern war damals nur ein weiterer Sport für mich, aber das änderte sich bald, als ich merkte, dass Klettern weit mehr war.
Wie groß bist Du und was wiegst Du?
Ich bin 1,59 Meter groß und wiege 46 Kg.
Was hat Dich zu den Bigwalls hingezogen? Und was steht im Zentrum Deiner Projekte: die Naturerfahrung? Die Selbsterfahrung? Autonum und unabhängig zu sein? Das Risiko? Oder die Suche nach Unbekanntem und Ungewissheiten?
Es
ist vor allem die Neugier, die mich zu den großen Wänden zieht. Es
gibt so viele Ungewissheiten und Unbekanntes, genau das macht mich
gespannt auf diese Herausforderung, eine Bigwall zu besteigen. Und
wenn du dann dort ankommst, entdeckst du meist großartige Regionen
und beeindruckende Landschaften, wo die Natur allgegenwärtig ist.
Eine Bigwall gibt dir die Möglichkeit, viele unterschiedliche
Erfahrungen zu erleben und du weißt vorher, nie, auf was du treffen
wirst.
Während Deiner Klettertour in Chile 2012 ("Espiadimonis") regnete es zehn Tage nonstop, Wasserfälle stürzten die Wand herab und du hattest wegen Hochwasser einen extrem schwierigen Rückweg. Du nanntest es hinterher ein "großes Abenteuer". War dies Dein schwierigstes Projekt?
Für mich hat jedes Projekt, das ich plane, seine eigene Herausforderung und Schwierigkeit. Um mich zu motivieren, muss etwas dabei sein, das neu für mich ist und bei dem ich nicht weiß, ob ich wirklich fähig bin, es zu meistern. Also ist bei jedem neuen Projekt eine neue Zutat dabei, etwas, das zu diesem Zeitpunkt schwierig für mich ist. Und das muss sich nicht zwingend auf das Klettern beziehen.
Wie wirken sich Deine Kletterexpedtionen auf Dich aus, was macht es mit Dir?
Jede Expedition ist eine neue Lebenserfahrung und das bedeutet, es gibt bei jeder Expedition ein davor und danach. Vor allem bei den Touren, die ich allein unternehme. Ich kann nicht genau sagen, was es letztendlich ändert, aber ich kann sagen: Jede Tour verändert mich. Es geht ja um intensive und starke Erfahrungen und natürlich wirken sie nach. Es ist nichts Bestimmtes, sondern eher etwas Generelles.
Du hast einmal gesagt: Bei einer Tour ist das "Wie" für Dich wichtiger als das "Was". Kannst Du das genauer erklären?
Was du tust, ist wichtig, denn es ist Teil deines Ziels und du brauchst ja ein Ziel, eine Wand oder eine Route, um überhaupt zu beginnen. Aber am Ende ist das Was nur eine Zahl oder Nummer: Ein Schwierigkeitsgrad, eine Zahlenangabe von Metern oder Kilometern, von Höhe, von Kilos oder von einer Anzahl an Tagen... Am Ende kommt es aber darauf an, wie du etwas machst, das ergibt den Unterschied. Wie ich ein Ziel erreiche, ist also für mich wichtiger als das eigentliche Ziel.
Woraus lernst Du mehr: Wenn Du scheiterst oder wenn Du Erfolg hast?
Aus beidem. Obwohl es leichter ist, aus dem Scheitern als aus dem Erfolg zu lernen, weil wir ja gewöhnlich erst dann begreifen, wenn uns etwas an Grenzen bringt oder in eine schwierige Situation. Wenn du scheiterst, hast du zwei Optionen: nichts tun – oder weitermachen und die Sache bewältigen. Wenn wir immer nur Erfolg haben, lernen wir nichts aus den einzelnen Schritten, wir freuen uns einfach nur drüber. Auch aus Erfolgen zu lernen, ist ein ganz wichtiges Ziel.
Warum gehst Du so gerne allein auf Epedition? Welchen Gewinn ziehst Du daraus?
Ich geh ebenso gerne mit Kletterpartnern auf Tour, aber manchmal muss ich einfach alleine los ziehen. Meine letzten großen Expeditionen habe ich allein unternommen, weil ich es so wollte. Ich suche eine gute Art, allein zu sein. Und selbstgewählte Einsamkeit ist gute Einsamkeit. Wenn du auf dich gestellt bist, musst du mit all deinen Dämonen, Ängsten und Unsicherheiten allein klar kommen. Das bringt dich an eine Grenze, mehr als das Klettern selbst.
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