Die Schweizer Überlebenskünstlerin Sarah Marquis hat unter anderem Australien umrundet und Asien zu Fuss durchquert. Wohin führt einen das, ausser ans Ende der Welt? Ein Gespräch über Weitwandern, Hunger und Durchhaltewillen.
Sarah, nach deinem dreijährigen und 20 000 Kilometer langen Alleingang von Sibirien bis an die Südküste Australiens hat dich das Wissenschaftsmagazin National Geographic als «Adventurer Of The Year 2014» nominiert – mit neun weiteren Abenteurern und Extremsportlern. Geht es auch dir um den Adrenalinkick, oder worum sonst?
Gut, was ich mache, ist extrem, aber
genau das Gegenteil von Adrenalinkick. Gehen ist ja im Grunde
langweilig. Deshalb passt die Bezeichnung «Abenteurerin» nicht auf
mich. Eher die Bezeichnung «Survivalist», denn sie schliesst viele
Aspekte mit ein, wie die Umgebung lesen und auswerten zu können –
und in Verbindung zur Natur zu kommen. Ich hab das in mir drinnen,
schon seit ich Kind war, diese Neugierde auf die Welt, auf die Natur.
Ich fühle mich wohl dort draussen. Also gehe ich immer weiter.
Woher nimmst du die Kraft, in acht Monaten die Anden zu durchwandern oder 4260 Kilometer weit die komplette Pazifikküste der USA abzugehen?
Unser Körper ist zu sehr viel mehr in der Lage, als wir Menschen glauben möchten. Und die Macht der Gedanken ist unglaublich. Sie beeinflusst den Körper und wie wir uns fühlen. Schon als Kind habe ich gelernt, darauf zu vertrauen, wohin mein Herz mich zieht. Ich habe meinen Pfad gefunden und gehe einfach los. Zehn Jahre lang hat man mich für verrückt gehalten. Meine Freunde studierten, bekamen Kinder, aber meine Berufung war eine andere. Nun gelte ich plötzlich als cool. Dabei habe ich nur getan, was ich immer tat. Bin Jahr für Jahr weiter meine Expeditionen gelaufen. Jeder hat eine Aufgabe, denke ich. Ich hab meine gefunden.
Die Wurzeln deiner Wanderwut liegen also in deiner Kindheit. Was hat dich so geprägt?
Eine Mutter, die mich buchstäblich gehen liess. Meine beiden Brüder und ich durften entdecken und erkunden, wir sind in den Wäldern rund ums Dorf aufgewachsen. Mit acht Jahren entdeckte ich eine Höhle voller Fledermäuse. Ich beschloss, die Nacht über zu bleiben, um sie zu beobachten. Klar, meine Mutter machte sich Sorgen und suchte nach mir. Aber in jener Nacht verstand sie auch, wer ich war: jemand, der von der Natur durch und durch fasziniert ist.
Hast du Vorbilder? Wer hat dich
inspiriert?
Vor allem die 1903 in Genf geborene Reiseschriftstellerin und Fotografin Ella Maillart. Sie war eine frühe
Entdeckerin und reiste als Mann verkleidet durch
Asien und die Welt. Sie war einfach
unglaublich.
Kennst du Frauen, die ähnlich wie du allein zu Fuss die Welt durchqueren?
Nicht dass ich wüsste. Unter den Survivalists gibt es kaum Frauen. Dabei haben gerade wir Frauen interessante Tricks auf Lager: Mit Wachsstreifen zum Enthaaren lassen sich zum Beispiel prima die giftigen Spuren mancher Pflanzen von der Haut entfernen. (lacht)
Wonach suchst du dir die Ziele für
deine Expeditionen aus?
Meistens ganz nach Inspiration. Eines Tages stand ich an einer roten Ampel, daneben befand sich ein Reisebüro. Im Aushang sah ich diese unglaubliche Fotografie von der Mongolei, mit diesen intensiv grünen Hügeln. Also wollte ich dorthin. Meine Reisen beginnen meistens auf diese Weise. Was folgt, ist eine monate- bis jahrelange akribische Planung der Tour. Wenn ich dann losgehe, geht es darum, loszulassen und instinktiv auf den Moment und meine Umgebung zu reagieren. Erst nach ungefähr sechs Monaten des Gehens hört der Lärm in meinem Kopf auf. Gehen reinigt den Kopf und den Körper. Alles erscheint einfach, und ich komme auf ein fast animalisches Level des Wahrnehmens und Verstehens. Ich jage. Ich überlebe. Ich höre die leisesten Laute, nehme Gerüche viel deutlicher wahr, alle Sinne sind geschärft. Tausend Tage allein im Zelt, da kommst du bei dir an.
Wenn da nicht die anderen wären …
Richtig. Kein Volk der Welt hat wirklich Verständnis für eine Frau, die sich allein durchs Niemandsland kämpft – und ich habe viele Völker kennengelernt. Aber ich habe gelernt, die Menschen nicht als gut oder schlecht zu bewerten, sondern einfach zu akzeptieren, dass es solche und solche gibt. Als Frau allein unterwegs – da bist du immer eine Attraktion, auf gute oder schlechte Art. Also versuche ich möglichst, mich unterwegs von Menschen fernzuhalten. Manchmal verkleide ich mich sogar als Mann, trage eine Sonnenbrille und ahme ihre Körpersprache nach.
Wurdest du tätlich angegriffen?
Ja, mehrfach. In der Mongolei überfiel mich über zwei Monate lang jede Nacht eine Gruppe betrunkener Reiter. Sie versuchten im Galopp, die Spitze meines Zelts herauszuziehen, um mich nach draussen zu treiben. Aber genau das habe ich nicht getan. Bei Angriffen versuche ich immer, keine Schwäche zu zeigen, denn dann ist man leichte Beute. Vielmehr versuche ich, mit meiner Reaktion zu überraschen. Hier geht es auch um Psychologie. Wenn mich ein Mann angreifen will, bitte ich ihn oft um Hilfe bei meiner Suche nach Wasser. Das ändert im Idealfall sein Muster im Kopf, lenkt sein Denken in eine andere, positive Richtung. Ausserdem beherrsche ich Karate und «Martial Arts». Ein guter Kampfkünstler vermeidet den Konflikt. Der Kampf ist immer das letzte Mittel.
Wie endete deine Auseinandersetzung mit den betrunkenen Mongolen?
Ich habe das Pferd eines der Reiter
angegriffen, es stieg hoch und warf ihn ab. Für einen Mongolen bedeutet es einen
massiven Gesichtsverlust, wenn er vom Pferd fällt. Dann sind sie abgehauen. Später wurde ich in China von Kindern mit Steinen beworfen. Als ich meine Kamera hervorzog, suchten sie das Weite, denn
in China gilt ein Foto als Beweis. Aber
selbstverständlich hatte ich in Asien auch viele, viele schöne Begegnungen. Thailand war eine Erleichterung. Dort war ich sehr willkommen und wurde nicht ständig nach dem Warum, Woher und Wohin
gefragt. Man kennt dort das Phänomen
(....)