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Mer d'Iroise in der Bretagne: Höllenfeuer im Wolkensturm

"So oft ich hier rausfahre, das Meer ist jeden Tag anders", sagt Christel, die rund um Molène und Ouessant Delfine und Touristen zusammen bringt.

Jeder Verschollene bekommt ein Wachkreuz: Kaum irgendwo sind sich Fegefeuer und Paradies so nah wie im Meeresnaturpark Iroise in der nordwestlichen Küste der Bretagne.

Das Ende der Welt ist für seine bretonischen Bewohner Anfang und zugleich Mittelpunkt des Universums. Finistère, das Ende, so nennen die Kontinentalfranzosen ihr nordwestliches Department Bretagne. Die Bretonen nennen es "Penn ar bed", den Anfang. Alles eine Frage der Perspektive. Von wo man es auch betrachtet: Die Küstenlinie an der Spitze der bretonischen Halbinsel hat eine riesige Spannbreite, es ist eine herrlich launische Destination, mal salzwiesenlammsanft mit preisgekrönten Stränden in karabischem Blaugrün. Dann wieder so stürmisch-grau und unberechenbar wild, dass es Einheimischen wie Fremden die Sprache verschlägt. Dieser Kontrast zieht sich durch, sogar bis zur salzig-süßen Karamell-Creme auf den Galettes, wie ein Teil, der fürs Ganze steht. Süß und salzig, das ist die Geschmacksrichtung der Bretagne.


Doch von vorne: Im Yachthafen Morgat auf der Halbinsel Crozon treffen wir Skipper Erwan Rognant, 43, von "Catavoile29". Hinter dem kleinen Wald aus Schiffsmasten erstreckt sich der weite, sichelförmige Sandstrand der Bucht von Douarnenez. Das Klicken der Winker an den Masten tönt wie silbrighelles Glockenläuten. Sieben winzige Jollen zuckeln im Gänsemarsch über das ruhige Meer, am blauen Himmel tummeln sich Häufchenwolken. Drei Stunden will Erwan mit uns hinaus auf seinem Katamaran, bis zum Pas de Chèvre, zum Ziegenkap. In übergroßen Latzhosen, Regenjacken und Schwimmwesten kauern wir am Bootsrand. Erwan legt ab, peilt auf den Leuchtturm im Süden der Bucht. Eigentlich ist er Industriezeichner. Mit sechs Monaten war er das erste Mal auf einem Schiff, hat schließlich vor sechs Jahren das Hobby zum Beruf gemacht. Sein Grundvertrauen überträgt sich auf uns Mitsegler: Jeder darf mal ran ans Ruder. Die Luft schmeckt nach Salz, ab und zu schlagen Wellen ins Boot, Gischt spritzt auf. Bis 45 Kilometer macht so ein Kat pro Stunde. Heute sind es gemäßigte sieben Knoten, gerade mal vierzehn Kilometer. Gemütlich also. Zeit zum Schauen, hinüber zum preisgekrönten Strand an der Île Vierge, ein schmaler, puderzuckerheller Streifen über türkisem Wasser, gerahmt von hohen Klippen mit schwarzen Grotten, darüber leuchten grün ein paar Kiefern. Ein prächtiges Piratenversteck – ebenso wie die anderen 450 namenlosen Grotten der großen Bucht. Orte wiie dieser haben die Engländerin Daphne du Maurier zu ihren berühmten Freibäuter-Romanen inspiriert.


Als wir den Windschatten der rund 100 Meter hohen Landzunge des Ziegenkaps verlassen, schlagen die Wellen plötzlich doppelt so hoch an den Bootsrumpf, heftige Böen zerren am Segel, die Kämme tragen jetzt weiße Schaumkronen. Das ist das wahre Gesicht der Bretagne – und das echte Segelgefühl! In kurzen Schlägen kreuzen wir gegen den Wind, ducken bei den Wendemanövern auf Knien unter dem tiefhängenden Baum hindurch. Zurück im Hafen gibt Erwan in seinem Büro den verdienten Anlegeschluck aus: natürlich Cidre! Mit sechs Prozent knallt der ganz schon rein, oder ist das der Sauerstoffschock? Wir trinken auf die Bretonen. Drei Millionen gibt es, davon lebt eine Million in Paris, darum listet das Völkchen die Haupstadt süffisant als größte bretonische Stadt überhaupt. Ja, für ihren Nationalstolz sind die Bretonen so bekannt wie die schnellen Wetterwechsel: Pralle Sonne folgt auf tiefhängende Sturmwolken, dazwischen schimmert ein Regenbogen auf, bis schließlich wirklich ein paar Tropfen fallen, für eine Viertelstunde oder so … schon fegt der nächste Windstoß den Himmel blank. Kein Ort der Bretagne liegt mehr als hundert Kilometer vom Meer entfernt – das Wasser ist hier das alles prägende Element. Überhaupt, das Meer: Bei St. Malo macht der Tidenhub zwölf Meter aus, beim Mont Saint Michel gewaltige fünfzehn Meter, der wohl größte Gezeitenunterschied weltweit. Ein ewiges Kommen und Gehen, Driften und Fließen, im schnellen Wechsel. Genau das macht das flache Mer d'Iroise mit seinen zahllosen Inselchen und schnellen Strömungen zum wildesten Revier Europas –Schon die Griechen und Römer fürchteten es.


Von der Ortschaft Le Conquet startet die Fähre zu den vorgelagerten Inseln Molène und Ouessant. Vom Heck weht die "Gwenn-ha-du", die bretonische Flagge mit den elf Hermelinschwänzen in Schwarz-Weiß. Vom Deck aus beobachten wir Kormorane und Basstölpel, die wie ein Stein aus großer Höhe ins Meer stürzen, silberglänzende Fischrücken im Zielvisier. Zur Linken zieht die Insel Quéménès vorbei, ein winziges Eiland, darauf ein einsames Haus, ein Bio-Bauernhof, in dem eine Familie mit zwei Kindern lebt. Was das für ein Lebensgefühl sein mag, König eines Inselreichs zu sein? Dann steuern wir an Molène vorbei, 200 Einwohner hat die Insel. Die Fähre rollt, hebt und senkt den Bug, angestrengt starren wir auf den Horizont, das soll gegen Seekrankwerden helfen. Auf den letzten Meilen vor Ouessant, das Linksaußen Europas, lugen tückisch schwarze Felsnasen wie Kobolde aus der Wasseroberfläche – wir wissen: Hunderte Wracks liegen auf dem Boden des Mer d'Iroise.


Wie ein breiter Riegel aus Granit liegt Ouessant als letzte Felsenbastion vor der Keltischen See. Dahinter treffen Atlantik und Ärmelkanal aufeinander. Ouessant ist klein. Nur rund 15 Quadratkilometer hat die Insel, der höchste Punkt liegt 60 Meter über dem Meer. Für die Ouessantins ist die "Insel der Frauen" ein Universum: Die Frauen lebten über Jahrhunderte auf sich allein gestellt. Schon mit zwölf Jahren gingen die Männer zur königlichen Marine, nur alle fünf, sechs Jahre kehrten sie heim. Wenn sie nicht an Skorbut oder Cholera starben oder mitsamt Schiff untergingen. War das der Fall, beerdigten die Frauen ein symbolisches Wachskreuz anstelle des Verschollenen. Ein Brauch, der sich bis in die 1960er Jahre hielt.


Es riecht nach Kräutern und Seetang, als wir in Nähe des Leuchtturms "Phare du Stiff" an Land gehen. Erbaut hat ihn Vauban, Architekt Ludwig XIV., im Jahr 1699. An der Mole wartet Fremdenführerin Ondine Morin, 31. Sie stammt von hier. Ondine ist schmal, drahtig, trägt den Namen einer Nymphe und dazu Sommersprossen und Bootcut-Jeans. "Auf Ouessant gibt es immerzu Wind. Das macht, dass Pflanzen und Tiere kleiner geraten", erzählt sie auf dem Weg in den Hauptort Lampaul. Und erklärt: "Wir leben mit den Elementen, mit dem Sonnenauf- und dem Untergang. Es sind nur 20 Kilometer bis zum Festland, aber der mentale Abstand ist sehr viel größer. Ouessant ist eine eigene Welt". Bis heute formt die Natur das Leben und den Alltag der Menschen, sagt sie, und: Nur vier Fischer gibt es noch, Ondine, ihren Mann, seine zwei Brüder. Den Tidenplan hat sie per Iphone immer dabei. In einem kleinen Laden im Ortskern verkauft Ondines Vater den Fang vom Abend zuvor, Lieu Jaune, eine Art Köhlerfisch, Makrelen und Barsch. Daneben steht die Kirche mit dem hohen Glockturm von 1883. "1910 lebten noch 3000 Menschen hier, heute sind es 900. Hier in der Kirche beteten die Frauen fast täglich. Sie wussten nie, ob der Mann wieder kommt".


Auf dem Friedhof davor liegen Gräber der einheimischen Familien wie Pennec, Malgorn und Salaun. Natürlich auch zahlreiche Opfer der See. Bis heute denken die Menschen an das größte Unglück in der Inselgeschichte, als das englische Passagierschiff "Drummond Castle" im Juni 1896 in eine Nebelbank geriet und auf Felsen lief. Minuten später sank das Schiff 60 Meter tief, 243 Menschen starben. Nur drei Überlebende fanden die Fischer am nächsten Morgen, geklammert an Treibgut. Ein gefahrvolles Revier, bis heute: 1978 lief der Öltanker "Amoco Cadiz" rund 30 Kilometer westlich auf Grund. Wer Ondines Geschichten lauscht, merkt schnell: Ondine ist Teil der Insel – und die Insel ein Teil von ihr. Dieses Eiland ist ein Kosmos an Geschichten, ihr Protagonist ist das Meer. "Es nimmt Dir die Söhne und den Mann, dafür bringt es Schwemm- und Treibgut. Auch mein Großvater starb als Fischer auf dem Meer. Die Frauen hatten Angst vor dem Wasser, gingen nicht schwimmen. Man kann als Frau schon eifersüchtig sein auf das Meer, weil dein Mann immerzu draußen ist. Also fische ich mit ihm zusammen. Aber – lieber einen glücklichen Mann auf dem Meer als einen, der daheim bleibt und es ohne das Meer nicht aushält". Ihre Mutter stammt aus Paris, arbeitete als Logopädin, traf im Urlaub auf den Vater, einen Fischer. Sie kam nach Ouessant und blieb. "Sie hat nie mehr etwas vermisst hier auf der Insel, war einfach glücklich". Ondine erinnert sich, wie sie als Kind nachts das regelmäßige Licht des Leuchtturms Créac’h durch ihr Zimmer huschen sah – sein Feuer ist das stärkste Europas. Es war wie ein Schutz, ein Wärter, ein Hüter für sie.


Sogar wir Landratten verstehen nun die Bedeutung der Leuchtfeuer in diesem wilden Winkel der Welt. Sie sind ein Synonym für Überleben. Über ihre "phares" sprechen die Bretonen wie über Kriegsveteranen, die manche Schlacht geschlagen haben. Wie über Persönlichkeiten, über die man viel zu erzählen weiß. 72 der 148 französischen Leuchttürme behüten die Küsten der Bretagne. Ein ganzes Drittel also. Die Wärter teilen sie in drei Klassen: "Paradiese" heißen die Türme auf sicherem Festland, "Fegefeuer" jene auf kleinen Inseln. "Höllen" dagegen stehen gottverlassen im Meer, zwölf davon gibt es hier. Ihre Wärter lebten ein hartes Leben inmitten extremer Elemente: Ohne Fluchtpunkt, allein mit sich, monatelang den Brechern der Wellen ausgesetzt, Tag und Nacht die reine, pure, unmittelbare und ungebremste Gewalt der Natur vor Augen, in den Ohren, auf der Haut. Vom Wärter des Leuchtturms Tévennec heißt es, er sei verrückt geworden.

Als "Hölle der Höllen" gilt der Leuchtturm Ar Men, weit draußen isoliert im Atlantik, fünfzehn Jahre baute man an ihm. Die größten Monsterwellen von fast 50 Metern wurden vor Jument gemessen. Zum Phare von Nividique müssen sich die Wärter per Seilbahn und Hilfsmasten übers Wasser hangeln. Während Ondine erzählt, erreichen wir die wilde Pointe Pern, westliche Spitze von Ouessant. Von hier sind es 6000 km in die USA, 180 nach England. Granitfelsen türmen sich zu bizarren Formationen. "Das ist mein Lieblingsplatz, eine archaische Landschaft fast ohne menschlichen Fußabdruck. Man vergisst die Zeit, das Geschehen der Welt." Wir laufen über dickes, fettes Gras und Heidekraut, das sich tief in den Boden krallt, vorbei an Brombeerhecken, Farnen, Büschen. Wolkenfetzen rasen über den Himmel. Wo die Natur so übermächtig erscheint, müssen die Schutzpatrone Akkord arbeiten: Stolze 7777 Heilige soll es hier geben, wobei die Heilige Maria persönlich für die Seefahrer haftet. Ihre Lieblingsfarbe war Blau, sagt man, daher streichen die Bretonen ihre Fensterrahmen in der Farbe des Himmels. Während wir Wolkenlesen, rezitiert Ondine über die gefährlichen Inseln des Mer d'Iroise:


Qui voit Sein, voit sa fin - Wer Sein erblickt, findet sein Ende

Qui voit Ouessant, voit son sang - Wer Ouessant erblickt, verliert sein Blut

Qui voit Molène, voit sa peine - Wer Molène erblickt, erlebt die Qual


Wo kein Baum wächst, da kein Holz. Deswegen kochen die Ouessantins mit dem, was sie haben: Ragout à la Motte ist eine Spezialität der Insel. Bis heute wird der Eintopf aus Lamm, Kartoffeln und Möhren fünf Stunden in einem schweren gusseisernen Topf auf der Grasnarbe geschmort. Das Gericht muss zwei Tage vorher bestellt werden, zum Beispiel im Restaurant "La Duchesse Anne". Eine gute Grundlage für eine Meeres-Safari im Zodiac.


Im Hafen von Le Conqet warten Christel und ihr Mann Lucky mit dem Schnellboot. Unser Ziel ist der Archipel rund um Molène. Christel schaut hinaus aufs Wasser: "So oft ich hier hinaus fahre, das Meer ist jeden Tag, jede Stunde anders". Ein paar Seemeilen später ist es soweit: Christel entdeckt gekrümmte Rückenfinnen zwischen den Wellen. Lucky steuert langsam drauf zu, stellt den Motor aus. Zu zweit, zu dritt kommen die Großen Tümmler näher, umkreisen das Boot. 87 Delfine dieser Schule von rund 100 Tieren sind offiziell registriert. "Das ist Welcome!", ruft Christel. So nennt sie den Delfin mit der großen Finne. "Er ist immer der Erste, der heran kommt!". Sie wirkt aufgeregt, obwohl sie die Tiere fast täglich trifft. "Salut, Bubul! Berling! Hermionne!". Die Delfine tauchen unter dem Boot durch, springen in Bögen aus dem Wasser. So schnell, dass die Kamera nur die Schwanzflossen erwischt. Das Schauspiel dauert rund 20 Minuten. Dann schwimmen sie in Formation hinaus zum Jagen, treiben kleine Fische wie Sardinen zusammen.


Neun größere und 25 kleinere Insel gehören zum Archipel von Molène, seit 1988 UNESCO Naturpark. 300 Algenarten gibt es hier und zahlreiche Vogelarten wie rotschnäbelige Austernfischer. Noch einmal stellt Lucky den Motor ab. "Keine schnellen Bewegungen jetzt!". Wir verharren. Tatsächlich, zwischen den Felsen dümpeln Kegelrobben in der Sonne. Andere treiben bräsig auf Algenteppichen im Wasser, nur die Schnauze und eine sanfte Rückenrundung ist zu sehen. Fregattvögel und Basstölpel fliegen über die Szenerie. Wir können uns kaum satt sehen. Langsam tuckern wir davon. Nicht weit davon passieren wir den 28 Meter hohen "Phare des Pierres Noires", den Leuchtturm der Schwarzen Steine. Er ist die dienstälteste Hölle hier. Hinter Molène erscheint die Wasseroberfläche plötzlich spiegelglatt. Gespenstisch. Das Wasser ist so klar, dass man die Algen in sechs Meter Tiefe zählen kann. Ein Stück weiter ragt ein Leuchtturm wie ein Mahnmal aus den Fluten: der "Phare de Kéréon". Etwas ist unheimlich hier: Er scheint eine unsichtbare Grenze zu markieren. Wie mit dem Lineal gezogen strudelt das Wasser hinter dem Turm in weiten Kreisen herum, während es davor still und ruhig liegt. Luc drosselt den Motor, überlässt das Boot der starken Strömung. Wir ahnen die Kräfte, die hier unter Wasser wirken, als gäben sich Poseidon, Neptun und Nereus gleichzeitig ein maritimes Stelldichein. "Das ist der Fromveur, eine Strömung, neun Knoten schnell", sagt Lucky ehrfürchtig. Wir schweigen, baff, beeindruckt und gebannt. "Nul n'a passé Fromveur sans connaître la peur", sagt man hier – niemand hat je den Fromveur überquert, ohne die Angst kennen zu lernen. Wir danken den Unterwassergöttern für die sanfte Demonstration ihrer Macht und kehren mit Speed aufs Festland zurück.


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