Nach 16 Jahren im Amt hat sich Kanzlerin Merkel auch in den USA Anerkennung erarbeitet. Viele sehen sie als besonnenen Anti-Trump - und mancher hält die Zeit für eine neue Politik für gekommen.
"Chancellor Merkel?! Na klar!" Die deutsche Kanzlerin kennen die US-Amerikaner in Washington. Auf der National Mall, dem Park hinter dem Kapitol, gehen Politiker und Touristen aus dem ganzen Land spazieren. Auf die Frage, wie sie Merkel finden, antworten fast alle gleich: Sie sei eine starke Kanzlerin! Effizient, rational, professionell - eben stark.Im selben Atemzug fügen sie hinzu: Hinter Amerika liegen turbulente Zeiten. Die Politik ist hyperpolarisiert. Die Gesellschaft gespalten. Deutschland hingegen erscheint vielen wie eine Insel der Stabilität.
Constanze Stelzenmüller vom Think Tank "Brookings Institute" erklärt, US-Amerikaner bewerteten Merkel vor allem durch die Brille von vier Jahren Trump-Regierung, von ungezügelter Aggressivität und Unvorhersehbarkeit. Im Vergleich, so scheint es auf der National Mall, wirkt Merkel besonders geradlinig, verlässlich und berechenbar.
Mit den Worten von Heerak Christian Kim, einem Master-Student und Mitglied der Republikaner, der Pause auf einer Parkbank macht: "Merkel denkt erst. Dann spricht sie. Dafür ist sie beliebt bei den Amerikanern." Merkel, eine Art Anti-Trump. Was Kritiker in Deutschland eher als Aufschieberitis und Untätigkeit kritisieren - das "Nerkeln" im Angesicht von Krisen - kommt bei einigen Befragten auf der Mall anscheinend völlig anders an: als entschleunigte, überlegte Politik.
Der Charme der LangweileBehutsames Regieren, Politik Schritt für Schritt, das tut den Amerikanern gerade vielleicht ganz gut. Daniel Hamilton, Dozent an der Johns Hopkins Universität, erklärt: US-Präsident Joe Biden versuche sich in derselben Methode. Da seien sich Biden und Merkel sogar etwas ähnlich - im Vergleich zu Trump erschienen beide etwas langweilig. Aber vielleicht sei eine Phase "langweiliger Politik" gar nicht so schlecht.
Vor allem aber Mädchen und Frauen kommen, angesprochen auf Merkel, ins Schwärmen. Sie sei inspirierend, ein Vorbild, weil sie sich in der Männerwelt der Politik durchgesetzt habe, sagt etwa Sarita Said, eine Ärztin aus Kalifornien. Viele denken ähnlich: Zwischen protzenden Kollegen wie Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro steche Merkel hervor, gerade weil deren Machtgehabe an ihr abperle, sie cool bleibe, sie selbst. Das sei bewundernswert. "Ihr völliger Mangel an Eitelkeit, an 'Neediness' - das wirkt auf viele ungeheuer authentisch", sagt Constanze Stelzenmüller vom "Brookings Institute". Merkel, finden viele, hat einfach Charisma.
Schaukelpolitik - die andere Seite Merkels
Doch bei allem Lob für Merkels Art, ein paar der Spaziergänger äußern dann doch Kritik. An der Gaspipeline " Nord Stream 2" zum Beispiel. Das sei doch verrückt, dass Merkel Gas aus Russland kaufe, entrüstet sich ein Mann aus Maryland. Seine Begleiterin findet: Merkel sei zu lasch gegenüber China. Dabei würden dort doch Menschenrechte verletzt.
Den Versuch Deutschlands, Amerika, Russland und China in der Balance zu halten, sehe man auf dem Capitol Hill als eine Art Schaukelpolitik, sagt Stelzenmüller. Und diese Taktik frustriere. Die amerikanische Politik habe sich von Merkel ein selbstbewussteres, stärkeres Deutschland und Europa gewünscht, eines, das Russlands Präsident Wladimir Putin oder Chinas Xi Jinping auch mal auf die Finger haut.
Stattdessen, so kommt das auch bei den Kritikern auf der National Mall an, stelle Merkel Deutschlands eigene Bedürfnisse nach Aufschwung und Wohlstand, wenn es denn sein muss, auch über demokratische Werte. Sie arrangiere sich mit Autokraten, so der Vorwurf.
Zeit für einen Generationenwechsel
Unter Amerikanern, so Stelzenmüller, habe sich durchaus auch das Gefühl eingeschlichen, dass es nach 16 Jahren Merkel Zeit sei für einen Generationenwechsel. Die USA sehen sich selbst und Europa mit dringenden globalen Problemen konfrontiert: Klimaschutz, Pandemievorsorge, der Erhalt einer offenen, freien Weltordnung. Es herrsche Sorge, sagt Stelzenmüller, Russland oder China könnten einen Keil zwischen die USA und Europa treiben. Und es herrsche Sorge, ob die Kanzlerin und ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin diese Lage verstanden haben.
Dennoch: In diesem Punkt sind sich alle, auch die Kritiker, einig: Wer auch immer nach der Bundestagswahl im September in Merkels große Fußstapfen tritt, wird es schwer haben. Dass der oder die nächste "German chancellor" auf Washingtons Mall für sein Charisma solche Begeisterung hervorruft, ist wohl unwahrscheinlich.