"Wie ist Ihr Nachmittag, Madam?", fragt ein afghanischer Junge. Sein ehrliches Interesse trifft in diesen Zeiten der Eskalation wie ein Schlag. In seiner rechten Hand hält er drei Murmeln. Seine Beine sind gewissenhaft überkreuzt, als säße er in einem Wartezimmer. "Auf ein Spiel?", fragt er, steht auf und eilt zu seinen Freunden, die sich schon auf dem staubigen Feld versammelt haben. Mit dem Finger bohrt er drei Löcher in den Boden. Wer es auf einen Hieb schafft, die Murmeln zu versenken, hat gewonnen.
Ein Moment des Durchatmens, nachdem in den vergangenen Tagen die Gewalt das Geschehen auf geprägt hat. Erst richtete sich die Wut der Inselbewohner gegen die griechische Regierung, die hier bis zum Sommer ein zweites Camp errichten wollte, um ankommende Geflüchtete schneller abschieben zu können. Dann wurden die Geflüchteten selbst und die humanitären Helfer zum Ziel. Seit Jahren fühlen sich die Menschen hier alleingelassen mit Problemen, für die niemand Verantwortung übernehmen will, nicht die Regierung in Athen und nicht die Mitgliedsstaaten der EU. Einige von ihnen radikalisieren sich.
Ärztinnen werden im Auto von einer mit Steinen und Holzstangen bewaffneten Gruppe angegriffen, Helferinnen werden aus ihren Wagen gezogen, am Sonntag steht das Transitlager des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Flammen. Die meisten Operationen werden eingestellt. Auch die Feldklinik von Ärzte ohne Grenzen schließt vorübergehend ihre Türen. Immer mehr humanitäre Helfer müssen aus Sicherheitsgründen die Insel verlassen.
Essen als Selbstbestimmung
Hinter den spielenden Kindern erhebt sich die Zeltstadt von Moria, wo in der Nachmittagssonne die Feuerstellen rauchen. An diesem Tag leben mehr als 20.000 Menschen unter den Plastikplanen, auf Holzpaletten und in den gerodeten Olivenbaumfeldern. Elektrizität gibt es schon lange nicht mehr. Jeder trägt einen Sack Holz vor sich her, Kinder in bunten Anoraks laufen wild umher und sammeln mehr Brennmaterial, einige Familien heben Öfen aus, um selbst Brot zu backen. Bis zu acht Stunden stehen die Menschen in Europas größtem Flüchtlingslager für Essen an. Viele stehen schon um 4.30 Uhr auf, um zwei Stunden später ein verpacktes Croissant und eine Flasche Wasser bei der Ausgabe zu bekommen. Das Essen in Moria ist beides: Kontrolle der Behörden über die Menschen und gleichzeitig auch einer der wenigen Auswege in die Selbstbestimmung.
"Ein Handy zu laden oder einfach mal eine Runde Tee zu kochen, ist hier eine Tagesaufgabe", sagt Masiullah Habibzai. Er sitzt neben dem Bretterverschlag der Schule Wave of Hope. Hier wird jeden Tag beinahe durchgehend von morgens um sechs bis abends um zehn unterrichtet. Vor einem Jahr stampfte der afghanische Journalist Zekria Farzad das Angebot aus dem matschigen Boden der Olivenfelder. Er wollte seinen fünf Kindern und den vielen anderen im Camp eine Chance auf Bildung eröffnen. Mittlerweile bieten rund 50 Lehrer für alle Altersgruppen an, was sie können: Französisch, Griechisch, Englisch, auch Mathe oder Musik.