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Organspende: "Die Widerspruchslösung muss verhindert werden"

9.500 Menschen in Deutschland warten auf eine Organspende. Jeden Tag sterben Menschen, weil zu wenige Organe gespendet werden. Und das obwohl die meisten Deutschen einer Organspende positiv gegenüberstehen. Was also tun, um die Zahl der Spender zu erhöhen?

Darüber entscheidet an diesem Donnerstag der Bundestag. Konkret geht es um zwei Gesetzentwürfe. Die "doppelte Widerspruchslösung" sieht vor, dass künftig jeder, der nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, potenzieller Organspender ist. Der andere Entwurf will die schon geltende Entscheidungsregelung stärken (Details dazu finden Sie im Infokasten unten im Text). ZEIT ONLINE hat darüber mit dem deutschen Ethikratsvorsitzenden Peter Dabrock und der europäischen Ethikratsvorsitzenden Christiane Woopen gesprochen. Hier protokollieren wir ihre gegensätzlichen Standpunkte zu den Gesetzesänderungen.

Peter Dabrock sagt: "Die Widerspruchslösung ist ineffektiv, unverhältnismäßig und übergriffig"

Erst einmal: Es ist völlig klar, dass wir mehr Organspender brauchen. Tausende Menschen warten auf ein Organ, viele versterben, weil es nicht genügend Spender gibt. Trotzdem ist die Widerspruchslösung, wie Jens Spahn und Karl Lauterbach sie anstreben, der völlig falsche Weg. Denn für sie müsste der Staat die informierte Einwilligung aufgeben und damit eines der wichtigsten Grundprinzipien in der Medizin.

Die informierte Einwilligung ist eine große Errungenschaft unseres liberalen Zeitalters. Sie besagt: Immer, wenn Ärzte etwas tun wollen, müssen Patienten vorher zustimmen, dass sie den Eingriff wünschen. Ausgerechnet bei einer derart persönlichen Frage wie der Organspende soll dieser Grundsatz nicht mehr gelten? Das kann nicht sein. Schweigen darf niemals als Zustimmung gelten.

Dazu kommt: Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden erhöht. Es gibt zwar eine Assoziation zwischen der Einführung der Widerspruchslösung und der Zahl der Organspenden. Ob beides aber ursächlich zusammenhängt, ist fraglich. Nehmen wir Spanien, das beim Thema Organspende mit etwa viermal so vielen Spendern wie Deutschland das Vorzeigebeispiel ist. Dort haben zehn Jahre Widerspruchsregelung nichts gebracht. Erst als die Politik die Strukturen verändert hat, waren mehr Menschen bereit, ihre Organe zu spenden. Zudem wird dort - wie in anderen sogenannten Vorzeigeländern auch - nicht nur nach dem Hirntod, sondern auch nach dem Herztod explantiert. Das will aber bei uns fast niemand.

Organspende - darüber wird abgestimmt

Der Bundestag entscheidet am Donnerstag im Wesentlichen über zwei Vorschläge. Parlamentarier um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD) setzen sich für die " doppelte Widerspruchslösung" ein. Jeder, der nicht aktiv widerspricht, soll demnach künftig potenziell Organspender sein. Wenn sich jemand für oder gegen eine Organspende entscheidet, soll das in einem bundesweiten Register festgehalten werden, auf das Ärztinnen und Ärzte zugreifen können. Die Entscheidung soll man jederzeit widerrufen können. "Doppelt" wird die Regelung genannt, weil die Angehörigen gefragt werden sollen, ob ihnen ein Widerspruch des potenziellen Organspenders bekannt ist. Selbst entscheiden dürfen sie allerdings nicht. Zusätzlich ist eine groß angelegte Informationskampagne geplant: Jeder Bürger ab 16 Jahren soll insgesamt dreimal angeschrieben werden, damit er sich mit dem Thema beschäftigt.

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Eine Gruppe um die Grünenvorsitzende Annalena Baerbock lehnt die Widerspruchsregelung ab. Sie setzt sich mit ihrem Gesetzentwurf dafür ein, dass sich Bürger informiert für oder gegen eine Organspende entscheiden können. Auch sie will ein zentrales Register einrichten, in dem Bürger ihre Entscheidung selbstständig eintragen und ändern können. Wer einen neuen Ausweis beantragt oder ihn verlängert, soll auf dem Amt Informationsmaterial bekommen und seinen Entschluss in ein Register eintragen lassen können. Außerdem sollen Hausärztinnen und Hausärzte ihre Patienten alle zwei Jahre bei Bedarf aktiv zum Thema Organspende beraten.

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Die AfD hat einen Antrag eingebracht, der vor allem von Misstrauen gegenüber den aktuellen Organspendestrukturen gekennzeichnet ist. Nur durch mehr Vertrauen könne erreicht werden, dass mehr Menschen ihre Organe spenden. Die letzte Änderung des Transplantationsgesetzes hingegen habe nicht für mehr Transparenz, sondern für mehr Skepsis gesorgt. Die Abgeordneten fordern, dass das gesamte Verfahren der Organauffindung und -vermittlung durch "nicht staatlich gebundene Organisationen" geregelt wird. Die Aufsicht über die Vermittlung von Organen soll auf eine "unabhängige öffentlich-rechtliche Institution" übertragen werden. Diese dürfe nicht mit Beteiligten im Organspendeverfahren besetzt sein.

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Abgesehen davon gilt in Spanien eine echte doppelte Widerspruchslösung. Das heißt, dass auch die Angehörigen die Möglichkeit haben, zu widersprechen. Der Gesetzentwurf von Spahn und Lauterbach sieht das nicht vor. Die Angehörigen sollen lediglich gefragt werden, ob ihr Verwandter zu Lebzeiten widersprochen hat. Das kann Angehörige in sehr schwierige Situationen bringen. Wenn Sie als Angehöriger nicht wollen, dass dem Verstorbenen Organe entnommen werden, aber nicht wissen, ob der Verstorbene spenden wollte, müssen Sie lügen. Wenn die Widerspruchsregelung durchkommt, müssten viele Menschen lügen lernen. Das finde ich bodenlos.

Statt der Widerspruchslösung sollten wir alles daran setzen, die Strukturen weiter zu verbessern. Zwar wurde das Transplantationsgesetz im vergangenen Jahr schon geändert, um die Rolle der Transplantationsbeauftragten an Kliniken zu verbessern und die Organentnahme auch finanziell besser zu honorieren. Aber hier müsste noch viel mehr gemacht werden.

Außerdem brauchen wir einen Kulturwandel. Es muss selbstverständlich werden, dass wir als Gesellschaft über das Thema Organspende sprechen. Wir brauchen mehr Aufklärung, zum Beispiel in Hausarztpraxen und Ausweisstellen, wie es der Gesetzesvorschlag zur Entscheidungslösung auch vorsieht. Und wir brauchen eine breite Diskussion über den Hirntod, ein Thema, das sehr viele Menschen bewegt. Es zu ignorieren, wäre arrogant.

Die Widerspruchslösung lässt all das weitgehend außer Acht. Sie setzt darauf, dass Menschen aus Trägheit oder Faulheit einer Spende nicht widersprechen. Sie ist ineffektiv, unverhältnismäßig und übergriffig und muss deshalb verhindert werden.

Christiane Woopen sagt: "Vielen Menschen fällt es leichter, ihr Einverständnis durch Schweigen auszudrücken"

Die Organtransplantation ist ethisch etwas unbestritten Gutes. Und Umfragen zeigen eindeutig, dass die allermeisten Deutschen die Organspende gut finden. Natürlich ist dabei die Selbstbestimmung des Menschen unbedingt zu achten. Sie kann sich aber in zwei Formen äußern: durch ein Tun und durch ein Unterlassen.

Der Gesetzgeber darf in der hier anstehenden Abwägung aus guten ethischen Gründen festlegen, dass Schweigen Zustimmung bedeutet - wenn er sicherstellt, dass alle Bürger darüber informiert sind, was dieses Schweigen bedeutet. Das ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Widerspruchsregelung, genau wie die Möglichkeit, seinen Widerspruch einfach und unbürokratisch zu hinterlegen und jederzeit ändern zu können.

Ich bin davon überzeugt, dass es vielen Menschen leichter fällt, ihr Einverständnis durch Schweigen auszudrücken. Und auch Angehörige könnten durch die neue Regelung entlastet werden: Fragen Ärzte sie derzeit, ob der potenzielle Organspender, von dem kein ausdrücklicher Wille vorliegt, seine Organe spenden wollte, sagen viele aus Unsicherheit Nein. Wenn sich aber die Widerspruchsregelung einmal etabliert hat, können sie davon ausgehen, dass ihr Angehöriger letztlich zugestimmt hat.

Am besten wäre es natürlich, wenn Familien und Freunde über das Thema Organspende sprechen würden und auf diese Frage vorbereitet sind. Dann fällt es ihnen auch leichter, die Entscheidung in dem so belasteten Prozess des Abschieds und der Trauer zu akzeptieren. Auch wenn sie sie vielleicht selbst so nicht gefällt hätten.

Am allerklarsten ist es für alle, wenn jemand einer Organspende explizit zustimmt oder widerspricht. Das muss das vorrangige Ziel sein. Insofern befürworte ich strukturelle Verbesserungen sowie eine differenzierte persönliche Aufklärung und Beratung durch Fachpersonal, die eine ausdrückliche Entscheidung fördern. Leider haben wir in der Vergangenheit gesehen, dass Aufklärung allein noch nicht reicht. Es gibt zum Beispiel bereits eine verpflichtende Aufklärung durch die Kassen, die Zahl der Organspenden ist trotzdem nicht wirklich größer geworden.

Die Widerspruchsregelung ist für mich eine zusätzliche Chance: Wenn in der Gesellschaft einmal die Überzeugung verankert ist, dass nicht zu widersprechen bedeutet, seine Organe spenden zu wollen, dann wird die Organspende das Übliche. Das hat mit Pflicht oder Zwang nichts zu tun, es gibt ja nur die Notwendigkeit 5 bis 10 Minuten seiner Zeit zu verwenden, um einen Widerspruch zu hinterlegen, wenn man das möchte. Das ist angesichts der existenziellen Bedeutung für Menschen, die ein Organ für ihr Überleben benötigen, sehr gut vertretbar und kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte.

Ganz genau kann man nicht wissen, inwieweit eine Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden erhöhen würde. Aber es besteht eine ernsthafte Chance für Hunderte von Menschen, die auf Organe warten. Diese Chance sollten wir nutzen.

Mehr zum Thema Organspende Lesen Sie auf unserer Themenseite.

Ablauf einer Organspende

Ehe jemand als Spender infrage kommt, müssen zwei erfahrene Ärztinnen oder Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod feststellen. Dieser tritt ein, sobald im Großhirn, im Kleinhirn und im Hirnstamm keinerlei Aktivität mehr gemessen werden kann. Damit die Organe nicht geschädigt werden, muss der Spender oder die Spenderin künstlich beatmet werden.

Wenn geklärt ist, dass Organe entnommen werden dürfen, wird die hirntote Spenderin auf Tumorerkrankungen und Infektionen untersucht. Das soll sicherstellen, dass der Empfänger eines Organs nicht gefährdet wird.

Die Daten des Spenders werden an die europäische Vermittlungsstelle Eurotransplant geschickt. Dort wird auf den Wartelisten nach passenden Empfängerinnen gesucht. Die Wartelisten sollen sicherstellen, dass diejenigen das Organ bekommen, die es am dringendsten brauchen. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Person arm oder reich, berühmt oder der Öffentlichkeit unbekannt ist. Nach den Skandalen von 2011 wurden die Kontrollen verschärft.

Anschließend werden dem Verstorbenen die Organe entnommen, die er bereit war zu spenden. Der Leichnam wird dann für eine Aufbahrung vorbereitet und kann bestattet werden. Die Organe werden gekühlt und verpackt und an ihren Bestimmungsort gebracht. Sie werden mit dem Krankenwagen transportiert oder in dringenden Fällen auch per Flugzeug ausgeflogen. In den deutschlandweit gut 50 Transplantationszentren werden sie verpflanzt.

Der Handel mit Organen ist nach dem Gesetz verboten und wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Abgeschwächte Strafen gelten für den Verkauf und Erwerb von Produkten, die aus Gewebe und Organen hergestellt worden sind.

Wer in Deutschland nach dem Hirntod seine Organe spenden möchte, muss einer Entnahme ausdrücklich zustimmen. Seit dem 1. November 2012 gilt dazu ein neues Transplantationsgesetz, die Entscheidungslösung: Jeder und jede Krankenversicherte wird regelmäßig angeschrieben und gefragt, ob ihre oder seine Organe im Todesfall verwendet werden dürfen.

Wie bisher gibt es einen Organspendeausweis. Darin steht, ob der- oder diejenige generell mit einer Organ- und Gewebespende einverstanden ist oder nicht. Die Bereitschaft lässt sich auch einschränken: Wer etwa nicht möchte, dass sein Herz entnommen wird, kann dies auf dem Ausweis vermerken.

Bisher wurden, wenn ein möglicher Spender zu Lebzeiten nichts verfügt hatte, nach seinem Tod die Angehörigen gefragt, ob sie einer Spende zustimmen. Auch in Zukunft werden Angehörige informiert, wenn ein potenzieller Spender oder eine potenzielle Spenderin verstirbt. Maßgeblich ist juristisch dann aber der zu Lebzeiten formulierte Wille des Verstorbenen.

In Österreich, Belgien und Spanien beispielsweise gilt die Widerspruchslösung: Hier zählt jeder von Geburt an als Organspender. Wer gegen eine Entnahme von Gewebe und Organen ist, muss dies ausdrücklich erklären. Allerdings wird auch in diesen Ländern immer mit den Angehörigen gesprochen und geklärt, ob Einwände gegen die Spende bestehen. Ob eine Widerspruchslösung auch in Deutschland eingeführt wird, diskutiert aktuell der Bundestag.

Das Gewebegesetz ergänzt das Transplantationsgesetz und regelt unter anderem die Entnahme von Knochen, Knorpeln, Augenhornhäuten und Herzklappen.

Das seit 1997 geltende Transplantationsgesetz regelt unter anderem Organspenden während des Lebens. Auch nach der Reform von 2012 gilt: Wer zu Lebzeiten etwa eine Niere spenden will, muss volljährig sein und über alle Risiken aufgeklärt werden. Ein Organ kann nur Verwandten, Ehegatten, Lebenspartnern oder engen Freundinnen und Freunden gespendet werden. Jede Lebendspenderin hat aber heute einen Anspruch gegen die Krankenkasse des Organempfängers auf Krankenbehandlung, Vor- und Nachsorge, Rehabilitation sowie Krankengeld.

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