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Querschnittlähmung: Vom Traum, wieder laufen zu können

Es klingt ein wenig wie ein Wunder: Mit der Kraft seiner Gedanken kann ein gelähmter 28-Jähriger seine Arme und Beine wieder bewegen, ja sogar ein paar Schritte gehen. Genauer gesagt läuft nicht er, sondern eine von der Decke hängende Roboter-Apparatur. In die wurde der Mann eingeschnallt. Zuvor hatten Mediziner ihm zwei Geräte mit Elektroden auf die harte Hirnhaut implantiert, die seine Gehirnströme ablesen und in Computersignale umwandeln. Über diese Gehirn-Maschine-Schnittstelle steuert der Mann das Exoskelett.

Wäre das, was Forscherinnen und Forscher der Uni Grenoble da präsentieren (Lancet Neurology: Benabid et al., 2019), eines Tages ungefährlich, alltagstauglich, erschwinglich und würde von Krankenkassen als Hilfsmittel bezahlt, wäre das sicherlich ein Fortschritt. Doch solche Sensationen haben derzeit mit dem Leben Querschnittgelähmter nichts zu tun. Ihnen stellen sich ganz andere Fragen: Bin ich für immer pflegebedürftig? Wie kann ich barrierefrei wohnen? Wer soll all das bezahlen? Kann ich meinen Beruf weiter ausüben? Kinder bekommen?

Ein durchtrenntes oder geschädigtes Rückenmark ist eine der schwersten Verletzungen, die sich ein Mensch zuziehen kann. Alle Nerven vom Gehirn in den Körper laufen hier hindurch. Je nachdem, auf Höhe welches Wirbels das Rückenmark verletzt ist, ist der Mensch von dort abwärts gelähmt. Rehabilitation und Therapien können die Situation aber verbessern. Eine Heilung ist - so bitter ist klingt - nicht realistisch.

Es sind vor allem Mediziner, die davon träumen, Gelähmte wieder zum Gehen zu verhelfen. Es geht um Patienten, die von den Schultern abwärts nichts mehr spüren. Die Arme und Beine nicht bewegen und womöglich ihre Blase nicht mehr kontrollieren können. Bis zu 120.000 Frauen und Männer in Deutschland leben derzeit mit dieser Diagnose. Jährlich kommen etwa 2.300 hinzu. Ursache ist meinst ein Unfall oder eine Erkrankung. Diese Menschen sind auf einen Rollstuhl angewiesen, brauchen bei simplen Alltagstätigkeiten Hilfe.

Weil auch das beste Exoskelett keinen Querschnittgelähmten heilen kann, forschen Arbeitsgruppen weltweit seit Jahrzehnten daran, wie sich so eine Lähmung eines Tages aktiv lindern oder sogar heilen ließe. Die Erfolge sind überschaubar. Nicht selten wird über Einzelfälle, in denen jemand Teile des Körpers im Rahmen einer Studie wieder bewegen konnte, zu positiv und wenig differenziert berichtet: Denn das, was in einem Labor geklappt haben mag, ist weit entfernt davon, im Alltag zu funktionieren. Und doch gibt es auch hier Einzelfälle, in denen Erstaunliches wieder möglich wird.

In Zukunft könnten Nerven vielleicht wirklich regeneriert, Rückenmark im Labor nachgezüchtet oder die Signale vom Gehirn an die Gliedmaßen innerhalb des Körpers umgeleitet werden. Vier Ansätze, in die Medizinerinnen und Mediziner Hoffnungen setzen:

Nerven umleiten, um wieder zu fühlen

Dreizehn jungen Patienten aus Australien haben zuletzt Schlagzeilen gemacht. Sie konnten nach einer Operation wieder Arme und Hände bewegen, obwohl eine Verletzung der Halswirbelsäule sie gelähmt hatte (The Lancet: van Zyl et al., 2019). Während das Rückenmark von Natur aus nahezu unfähig ist, nach einer Verletzung neue Verbindungen zwischen Nervenzellen zu knüpfen, sind periphere Nerven, die etwa Arme und Beine versorgen, dazu in der Lage. Voraussetzung für diese Methode ist, dass es noch intakte Nervenverbindungen vom Gehirn über das Rückenmark bis zu einem Muskel gibt, etwa im Oberarm.

Querschnittlähmung

Wenn das Rückenmark durchtrennt oder geschädigt ist, ist eine Querschnittlähmung die Folge. Wie stark sie ausgeprägt ist, hängt von der Höhe der Verletzung ab. Das Rückenmark ist in verschiedene Segmente unterteilt, wobei jedes Segment für die Steuerung bestimmter Muskelgruppen und Organfunktionen verantwortlich ist. Bei einer Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule können Betroffene typischerweise weder Arme noch Beine bewegen.

Je nachdem, wie schwer der Schaden ist, unterscheidet man eine komplette Lähmung ( Plegie) von einer inkompletten Lähmung ( Parese). Sind unterhalb der Verletzung keine motorischen oder sensorischen Funktionen mehr da, spricht man von einer kompletten Querschnittlähmung. Sind sie teilweise noch erhalten, von einer inkompletten. Querschnittgelähmt zu sein bedeutet in vielen Fällen auch, mit Schmerzen und Spastiken - also einer krankhaft erhöhten Muskelspannung - zu leben oder die eigene Blasen- und Darmfunktio n nicht mehr willkürlich steuern zu können.

In Deutschland leben derzeit 100.000 bis 120.000 Menschen mit einer Querschnittlähmung. Jedes Jahr kommen mindestens 2.300 durch Erkrankungen und Unfälle hinzu, wie der Arbeitskreis Querschnittlähmung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung mitteilt. Infektionen, Tumore, Strahlenschäden oder Gefäßerkrankungen können also ebenso dazu führen, wie ein Autounfall.

Bis heute ist eine Querschnittlähmung als solche nicht heilbar. Je nach Schweregrad sind durch Rehabilitationsmaßnahmen Verbesserungen in der Motorik und Sensorik möglich und auch die Höhe der Lähmung nach einem Unfall kann sich noch verschieben.

Ein Team von Chirurginnen hatte solche funktionsfähige Nerven umgeleitet, sodass sie über Monate hinweg in gelähmte Muskeln einwachsen konnten. In einigen Fällen verpflanzten die Ärztinnen zusätzlich Muskelsehnen, um kräftigere Bewegungen zu ermöglichen. Mithilfe intensiver Physiotherapie lernten die Patienten über zwei Jahre, alltägliche Tätigkeiten wieder auszuführen, etwa Zähne zu putzen, ein Glas zu halten oder zu tippen.

"Diese Methode kann eine Zukunft haben", sagt Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie des Uniklinikums Heidelberg. Bisher hätten die wenigen Zentren, die die Methode schon seit einiger Zeit anböten, nur unabhängig von Einzelfällen berichtet. Das große Verdienst des australischen Teams: Es hat die Technik erstmals systematisch und mit Erfolg untersucht. "Wenn Menschen wieder greifen können, dann ist das toll", sagt Weidner. Das höre sich vielleicht nicht nach viel an, bedeute aber Selbstständigkeit und weniger Abhängigkeit von Pflegenden und Angehörigen.

Der Nachteil der Methode: "Insgesamt kommen wohl nur wenige Patienten dafür infrage", sagt Weidner. Es ist keine Lösung für alle. Eine Voraussetzung für die Studie war beispielsweise, dass die Rückenmarksverletzung nicht länger als 18 Monate zurücklag. Zudem mussten die Schulter- und Ellenbogenfunktion zumindest teilweise noch vorhanden sein.

Das Rückenmark mit Strom aufwecken

Ein weiterer Ansatz ist, das Rückenmark unterhalb der Verletzungsstelle mit elektrischem Strom wieder aufzuwecken. Epidurale elektrische Stimulation (EES) heißt das Verfahren, das Forscherteams weltweit seit Jahren verfeinern. Die Stimulation soll das Gehirn dazu bringen, ungenutzte Leitungen in die untere Körperhälfte wieder zu aktivieren. Gelähmte Nagetiere etwa konnten mithilfe dieser Technik wieder stehen oder laufen, bei Menschen jedoch funktionierte das lange nicht (The Neuroscientist: Shah & Lavrov, 2017). Bis zum vergangenen Herbst.

Nach einer Operation, in der man Elektroden im Rückenmark platzierte, anschließender elektrischer Stimulation und intensivem Training konnten die drei Patienten wieder selbstständig stehen und gehen, wie Schweizer Forscher im November 2018 berichteten (Nature: Wagner et al.). Zwei von ihnen sogar nicht nur im klinischen Setting, sondern auch im Alltag mithilfe eines Rollators.

Elektroden unterhalb der Verletzungsstelle einzusetzen, ist kein neuer Ansatz. Wohl aber, auf einen Dauerreiz zu verzichten. Nervenzellen, die Bewegungen der Hüft- und Beinmuskulatur steuern, stimulierte das Schweizer Forscherteam räumlich und zeitlich versetzt, so wie es beim natürlichen Bewegungsablauf der Fall ist. Weil einige Bewegungen nach monatelangem Training sogar ohne den Stimulator möglich waren, vermuten die Wissenschaftler, dass sich über die Verletzungsstelle hinweg wieder Nervenverbindungen gebildet haben könnten. Frische Nerven, die eigenständig funktionieren. Auch wenn das noch nicht erwiesen ist, sieht mancher in der gezielten Elektrostimulation deshalb die Zukunft.

Zurückhaltender ist da der Arzt Norbert Weidner. Das Verfahren sei wissenschaftlich sehr spannend, sagt er. Allerdings habe man die Ergebnisse in einer hochgradig kontrollierten Umgebung mit intensiver monatelanger Betreuung durch Physiotherapeuten erzielt. "Inwiefern sich das auf Alltagssituationen übertragen lässt, muss sich erst noch zeigen", sagt Weidner. Im Alltag laufen Menschen schließlich nicht in Begleitung über glatten Klinikboden, sondern wechseln eigenständig von Teppichboden auf Parkett, müssen mal eine Schwelle oder zwei Stufen überwinden.

Ein weiterer Kritikpunkt: Nach jetziger Kenntnis könnten vor allem inkomplett Gelähmte, die noch einen erheblichen Anteil funktionsfähiger Nervenbahnen haben, von der Methode profitieren. Bei komplett Querschnittgelähmten sei nicht davon auszugehen, dass sie durch die Stimulation im Alltag wieder gehen können, sagt Weidner.

Neuronen aus Stammzellen züchten

Vor etwa zwanzig Jahren galt die Idee, Querschnittgelähmte mit Stammzellen zu behandeln, als äußerst aussichtsreich. Die erste Euphorie hat sich inzwischen gelegt, weil die rasch erwarteten Erfolge ausblieben. Doch es gibt neue Entwicklungen, auf die Forscher nun setzen.

Der ursprüngliche Plan sah vor, zunächst Stammzellen - also unreife Zellen, die sich zu verschiedenen Zelltypen entwickeln können -, ins Rückenmark der Patienten zu transplantieren. Diese sollten dort dann zu Nervenzellen werden und neue Verbindungen über die Verletzungsstelle hinweg bilden. Verletzung überbrückt, Problem gelöst! In Versuchen mit Ratten klappte das sogar erstaunlich gut: Aus den Stammzellen wurden Neuronen, die sich von selbst mit dem Nervensystem der Tiere verbanden (Stem Cell Reports: Adler et al., 2017). Laufen aber konnten die Nager nicht. Der Grund: Im Rückenmark gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende verschiedene Typen von Nervenzellen. Nicht jeder Typ kommt mit den anderen klar.

Stammzellen

In den ersten Tagen seiner Entwicklung ist ein Embryo noch nicht ausdifferenziert - das heißt, aus seinen Zellen können sich noch alle möglichen Organe entwickeln. Diese Tatsache will die Forschung sich zunutze machen und aus solchen embryonalen Stammzellen Ersatzgewebe züchten. Erstmals wurden 1981 embryonale Stammzellen aus Mäusen isoliert. Im Jahr 1998 gelang es dem amerikanischen Forscher James Thomson von der Universität Wisconsin, die ersten Zell-Linien aus menschlichen Embryonen zu züchten.

Doch auch Erwachsene können noch Stammzellen bilden, zum Beispiel im Knochenmark, wo daraus immer neue Blutzellen entstehen. Diese adulten Stammzellen, auf die Gegner der Forschung an embryonalen Zellen hoffen, können ebenfalls Gewebe nachbilden. Allerdings sind sie nicht so wandlungs- und vermehrungsfähig. Bei Querschnittgelähmten, die sich in den USA freiwillig einer Stammzelltherapie unterziehen wollen, hofft man, zerstörtes Nervengewebe regenerieren zu können.

Zur Behandlung von Hirnschäden - etwa durch Parkinson oder nach einem Schlaganfall - setzten Forscher auf fötale (oder fetale) Stammzellen. Diese werden fünf bis zwölf Wochen alten Föten entnommen, deren Körper nach einer Abtreibung für die Forschung freigegeben wurde.

Ob Alzheimer, Parkinson, Diabetes, Querschnittlähmung oder Herzinfarkt - bei diesen Krankheiten stirbt Gewebe ab oder wird geschädigt, sodass die Organe nicht mehr richtig funktionieren. Forscher hoffen, aus embryonalen Stammzellen Ersatzgewebe zu züchten. Zudem könnte man an so hergestelltem Gewebe Medikamente testen.

In Deutschland ist die Herstellung von Embryonen zur Stammzellgewinnung verboten. Damit soll das ungeborene Leben geschützt werden. Zwar befinden sich die Embryonen bei der Zellentnahme in einem frühen Entwicklungsstadium und bestehen erst aus wenigen Zellen, doch theoretisch könnte aus ihnen ein Mensch heranwachsen, würden sie in die Gebärmutter einer Frau eingepflanzt.

In anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, werden Embryonen für die Forschung genutzt, die bei der künstlichen Befruchtung "übrig" geblieben sind. Bis April 2008 war in Deutschland nur die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt, die aus dem Ausland stammen und vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Da diese alten Zelllinien durch die häufige Vervielfältigung verunreinigt und genetisch verändert sind, wurde dieser Stichtag im April 2008 auf den 1. Mai 2007 verlegt.

Viele Wissenschaftler fordern eine weitere Lockerung der Gesetzgebung in Deutschland, um international konkurrenzfähig zu sein. Einige Gegner wollen ein generelles Verbot der Forschung an embryonalen Stammzellen.

Das Kürzel steht für induzierte pluripotente Stammzelle. Sie entstehen, wenn man die ausgereiften Körperzellen eines Erwachsenen mithilfe der Biochemie auf einen sehr frühen, quasiembryonalen Zustand zurückprogrammiert. Dann entwickeln etwa Hautzellen Eigenschaften von Embryozellen: Aus ihnen kann praktisch jeder Zelltyp des Körpers entstehen.

Die iPS sind genetisch identisch mit den ursprünglichen Hautzellen. Ein entscheidender Vorteil: Daraus gezüchtetes Gewebe würde nach einer Transplantation vom Immunsystem des Zellspenders nicht abgestoßen werden. Die iPS könnten zudem in Zukunft ein ethisches Problem lösen: Um sie zu gewinnen, muss kein Embryo sterben.

Erstmals gelang die Reprogrammierung 2006 dem Team des japanischen Stammzellforschers Shinya Yamanaka mit Mauszellen. 2008 verwandelte Kevin Eggan von der Universität in Harvard menschliche Hautzellen zunächst in Stammzellen und anschließend in Nervenzellen.

Möglich wurden die iPS, weil die Forschung an echten embryonalen Stammzellen zuvor vier Erbfaktoren identifiziert hatte, die für den jungfräulichen Status der Zelle entscheidend sind.

Man dürfe sich das in etwa so vorstellen, als würden 5.000 Menschen in einem Raum sitzen und jeder einem Freund auf der gegenüberliegenden Seite eine Nachricht überbringen wollen, beschreibt es Jennifer Dulin, Neurowissenschaftlerin an der Texas A&M University. Die anderen könnten die Nachricht zwar theoretisch weiterleiten, aber jeder spricht nur zwei von 50 möglichen Sprachen. Um die Nachricht zu überbringen, muss man also zuerst jemanden in seiner Nähe finden, der die eigene Sprache spricht, genauso wie die nächste Person und so weiter. "Auch Nervenzellen kommunizieren nur mit ganz bestimmten Partnern", sagt Dulin. Damit ein Nervenimpuls die verletzte Stelle passieren kann, müssen also ausreichend richtige Neuronen vorhanden sein. Noch ist das dem Zufall überlassen. Doch mithilfe neuer Techniken lässt sich verfolgen, welche Verbindungen die transplantierten Zellen eingehen. Indem sie die Prozesse beobachten und verstehen, lernen Dulin und andere Forscher in Zukunft bestenfalls, wie sich die Stammzellen gezielter einsetzen lassen.

Parallel dazu laufen aktuell erste Phase-I-Studien am Menschen. Eine Arbeitsgruppe an der Universität von Kalifornien in San Diego verpflanzte erstmals drei Männern und einer Frau mit Querschnittlähmung Stammzellen (Cell Stem Cell: Curtis et al., 2018). Sechsmal spritzten die Ärzte jeweils 1,2 Millionen Nervenstammzellen direkt in den Wirbelkanal der Patienten. Alle Probanden vertrugen die Behandlung gut, bis zwei Jahre danach waren keine schweren Nebenwirkungen aufgetreten - die Voraussetzung für weitere Studien. Drei der Teilnehmer zeigten leichte neurologische Verbesserungen, allerdings verbesserte sich die Lebensqualität bei keinem von ihnen. Ob die Methode Menschen tatsächlich helfen kann, müssen nun weitere Untersuchungen zeigen.

Problematisch ist indes die Frage, woher die Stammzellen kommen. In der Studie aus San Diego stammten sie aus einem Fötus, der im Alter von acht Wochen abgetrieben worden war. Das wäre rechtlich auch in Deutschland erlaubt, ist aber ethisch umstritten. Eine andere mögliche Quelle: induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen), die beispielsweise aus adulten Haut- oder Fettzellen der Patienten zurückprogrammiert werden können. Japanische Forscher haben im Frühjahr angekündigt, erstmals solche iPS-Zellen für die Behandlung von Querschnittgelähmten zu testen. Zwar ist auch diese Technik nicht risikofrei. Einen Vorteil sieht Jennifer Dulin aber darin, dass gelähmte Patienten Transplantate körpereigener Zellen erhalten könnten. Das wäre nicht nur ethisch vertretbarer, es könnte zudem die Gefahr verringern, dass das Immunsystem sie abstößt.

Eiweiße hemmen, damit Nerven sich erholen

Eine weitere Ursache, warum sich die Nerven des Rückenmarks nicht von selbst erholen, ist das Eiweiß Nogo-A. Es findet sich in der Membran, die Nervenfasern umgibt, und verhindert, dass diese im Falle einer Verletzung neu aussprossen. Entdeckt hat das Eiweiß der Neurobiologe Martin Schwab von der ETH Zürich bereits Ende der Achtzigerjahre.

Schwab und sein Team haben mittlerweile einen Antikörper entwickelt, der das Protein hemmt. Weil Tierversuche ergaben, dass sich Nerven so regenerieren können, und erste Tests an Menschen keine schwerwiegenden Nebenwirkungen zeigten, ist diesen Sommer eine Phase-II-Studie gestartet (Neurorehabilitation and Neural Repair: Kucher et al., 2018). An 15 europäischen Zentren wollen Ärztinnen und Ärzte die Wirkung des Medikaments bei 132 Patienten mit frisch aufgetretener Querschnittlähmung testen; innerhalb der ersten Monate nach einer Verletzung ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass die Nerven wieder wachsen.

Allerdings kommt es auch hier darauf an, wie stark das Rückenmark im konkreten Fall verletzt ist. Besonders gut stünden die Chancen bei Patientinnen und Patienten, die noch einen Rest an Beweglichkeit haben, sagt der Arzt Norbert Weidner, da der Antikörper das Wachstum noch intakter Nervenbahnen fördere.

Es bleibt eine riesige Herausforderung. Norbert Weidner, Arzt

Hoffnung auf eine bessere Behandlung geben diese Ansätze schon. Aber Querschnittlähmung zu heilen, "bleibt eine riesige Herausforderung", sagt Weidner. Es sei ungewiss, "ob komplett Gelähmte durch eine Therapie jemals wieder selbstständig im Alltag laufen können".

Für viele Teams mag das weiterhin das große Ziel sein. Doch es ist durchaus erstrebenswert, zugleich kleinere Ziele zu verfolgen. Für viele Querschnittgelähmte hat das Laufen nämlich gar nicht oberste Priorität, sondern sie würden sich freuen, wieder ihre Hände bewegen, Darm und Blase kontrollieren oder Sex haben zu können. "Als Wissenschaftlerin konzentriert man sich manchmal zu sehr auf die eigene Arbeit und verliert das große Ganze aus dem Blick", sagt Dulin. Und das sei, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.

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