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Stillstand in der Herzkammer

Wo sich gewöhnlich Menschenmassen ihren Weg durch den Londoner Untergrund bahnen, ist derzeit kaum jemand unterwegs: die U-Bahn-Station Oxford Circus. Bild: Kirsty Wigglesworth/dpa

Das Coronavirus hat die Schaltzentrale Großbritanniens befallen: seine Hauptstadt. Ein Londoner beschreibt, wie das Virus die Metropole lähmt, und erklärt, warum dort die Zahl der Todesfälle so rasant steigt.

In Sichtweite des Londoner Parlamentsgebäudes steht die Statue von Sir Winston Churchill, des britischen Premierministers, der sein Land mit kühlem Kopf durch den Zweiten Weltkrieg manövrierte. Stoisch, mit grimmigem Gesicht, auf seinen ikonischen Stock gestützt überblickt er den Parliament Square. Als Boris Johnson, der jetzige Premier, nach seinem politischen Vorbild suchte, griff er gleich ins oberste Regal. Klar: Churchill. Eine landesweite Krise hat er nun schon mal. Das Coronavirus hat das Vereinigte Königreich längst erreicht.

Johnson auf Schlingerkurs: Großbritannien ächzt unter den Folgen des Coronavirus´

Johnson reagierte zögerlich. "Am Anfang war er sehr naiv. Seine Strategie der Herden-Immunität war der falsche Ansatz", sagt Jack Philips. "Mittlerweile ist er umgekehrt." Philips ist Engländer. Er stammt aus Stevenage, einem Vorort von London, etwa 40 Kilometer nördlich der Stadt. Vor kurzem hat er sein Jura-Studium abgeschlossen. Diese Woche hatte er ein Vorstellungsgespräch, eines der wenigen, die noch stattfanden. "Ich bin widerwillig mit dem Zug in die Stadt gefahren. Es war kaum jemand im Zug oder in der U-Bahn." Ein wenig gespenstisch sei die Situation gewesen.

Zahl der Todesfälle steigt

Zunächst schien es, als würden die Briten von der Pandemie verschont bleiben. Aktuell liegt die offizielle Zahl der Infizierten bei 5683 und damit deutlich niedriger als in Deutschland. An den Folgen des Coronavirus gestorben sind dagegen schon 281 Menschen. Das bedeutet: Die Mortalitätsrate ist in Großbritannien etwa 13-mal höher als in der Bundesrepublik. Woran liegt das? "Unser Gesundheitssystem war den Anforderungen überhaupt nicht gewachsen", erklärt Philips, "es fehlen einfach die Ressourcen."

Seit 2010 die Tories, also die Konservativen, regieren, seien die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung massiv gedrosselt worden. Bräche das Coronavirus unkontrolliert im gesamten Königreich aus, dann - das gibt sogar Johnson zu - werde es Engpässe bei der medizinischen Versorgung geben. Derzeit ist ein Gesetz auf dem Weg, das es angehenden Ärzten und Krankenpflegern erlaubt, früher in den Job einzusteigen. Philips´ Cousine ist in ihrem letzten Studienjahr. "Ich glaube, dass sie bald im Krankenhaus mithelfen muss", sagt er. Dasselbe gelte für Ärzte im Ruhestand.

"Unser Gesundheitssystem ist den Anforderungen nicht gewachsen. Es fehlen einfach die Ressourcen." Jack Philips, Londoner Jurist

Und das öffentliche Leben? Die ersten Adern des Londoner Verkehrsnetzes wurden bereits stillgelegt. Einige U-Bahn-Linien fahren nicht mehr, einzelne Bahnhöfe bleiben geschlossen. Besonders von Corona betroffen ist das politische und touristische Zentrum der Stadt: Westminster. Wo sich gewöhnlich tausende Besucher um Big Ben und Westminster Abbey drängen, sind die Plätze nahezu leer. "London ist bei Corona dem Rest des Landes drei, vier Wochen voraus", sagt Philips. London: das politische, kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zentrum. Die Herzkammer Großbritanniens. Wenn sie stillsteht, erschlafft das ganze Land. Der Handel an der Börse ist immer wieder unterbrochen. Mit einer Ausgangssperre rechnen die Londoner jeden Tag. "Lockdown" nennen sie das auf der Insel - Abriegelung.

Bewährungsprobe für Johnson

Wirklich beschützt fühlt sich Philips von der Regierung nicht. Obwohl er, der sich immer für einen Verbleib seines Landes in der EU ausgesprochen hat, auch lobende Worte für Johnson übrig hat: "Ich denke er macht derzeit einen guten Job. Er hört auf die Experten, das ist ein wichtiger Schritt." Johnson könne jetzt zeigen, was in ihm steckt. Ob er mehr ist als nur der blonde Brexit-Zausel. Ob er auch mit dem feinen Skalpell am offenen Herzen operieren kann. Oder nur mit dem Streithammer der Populisten. Ob er seinem Vorbild, Winston Churchill, näher ist als viele glauben. Niemand wisse genau, was die nächsten Wochen bringen, sagt Philips. "Es ist eine außergewöhnliche Zeit."

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