Längst lastet auf Eilish die Erwartungshaltung, mit ihrem ganz eigenen Genremix die Zukunftshoffnung des Musikgeschäfts zu sein. Und das kommt nicht von ungefähr. Ihr erstes Album „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" brachte der jungen Amerikanerin 2020 fünf Grammys ein, darunter in vier Hauptkategorien, nachdem bereits ihre Debüt-EP „Dont Smile At Me" (2017) die Kritik begeistert hatte. Die britische „Vogue", auf deren Cover die Musikerin kürzlich in ungewohnt körperbetontem Outfit abgebildet war, bezeichnete sie als „Hohepriesterin der Generation Z".
Eilishs Sound, der bei der Generation Z offensichtlich Anklang findet, verdichtet sich wohl am eindrücklichsten in ihrem Hit „Bad Guy", der bei inzwischen weit über einer Milliarde Klicks auf YouTube hält: treibende Bässe mit tanzbarer Melodie, die mit der leicht genervten Stimme im Kontrast steht, mit der sie das Selbstbild des angesprochenen „Bad Guy" genüsslich demontiert.
Der Weg zum Glück?Das Erfolgsgeheimnis von Eilish war es bisher, dass sie sich in ihren Texten überzeugend mit dem eigenen Innenleben auseinandersetzte und dass man ihr diese Selbstergründung abnahm, schreibt und produziert sie ihre Musik seit ihrem zwölften Lebensjahr doch gemeinsam mit ihrem Bruder Finneas selbst. In der Liga, in der Eilish in puncto Chartplazierungen, Hörerreichweite und Vermarktungspotenzial spielt, ist das eher die Ausnahme. Freilich ist Eilish Teil von ausgeklügelten Marketingstrategien und Inszenierung, doch vermittelt sie ständig, dass alles nach ihrem eigenen Plan und mit ihrer absoluten Kontrolle über den kreativen Prozess abläuft.
Das neue Album „Happier Than Ever" schließt beim Ergründen des Teenage-Ichs jedenfalls da an, wo „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" aufhörte, auch wenn hier alles etwas ernster, aufgeräumter, man könnte meinen, erfahrener klingt. Ein Umstand, der schon im programmatischen Eröffnungssong „Getting Older" anklingt: „I'm getting older / I've got more on my shoulders".
Herzschmerz und die mitunter unfreiwillig komische Selbstdarstellung sowie die Abgründe männlicher Grausamkeit („Male Fantasy") sind thematisch eine sichere Bank, die beispielsweise in „Lost Cause", einer der insgesamt fünf Singles, die bereits vor dem Albumrelease am Freitag veröffentlicht wurden, variiert wird. Das Video zeigt eine Teen-Pyjamaparty mit Freundinnen, Chips und Twister, bei der der Abschied von einem verflossenen Geliebten bei schleppendem Beat mit reduzierter Bassgitarre und beeindruckend souliger Färbung in Eilishs Gesang zelebriert wird. Laut der Künstlerin wollte sie ein „zeitloses Album aufnehmen", und zwar in erster Linie „zeitlos für mich selbst".
Überzeugender Genremix und Kreisen um TraumaZeitlosigkeit ist ein Ehrenabzeichen, das in der Popmusik mit ihrem niemals zu stillenden Hunger nach Neuem nur selten vergeben wird, zumeist auch nur in der Rückschau. Dass sich das Attribut auf Eilishs Musik einmal anwenden wird lassen, ist durchaus möglich, schafft sie doch, was sehr selten gelingt: Stilanleihen von Soul über Hip-Hop und elektronische Einschläge bis zu klassischen Balladenarrangements zu etwas zu verbinden, das ganz selbstständig klingt.
Aufsehen erregte die Ende April veröffentlichte Ballade „Your Power", in der es um den Machtmissbrauch eines älteren Mannes an einer jüngeren Frau geht. In einem Interview mit der „Vogue" meinte Eilish, dass sexuelle Ausbeutung ständig und überall stattfinde. „Es spielt keine Rolle, wer du bist, wie dein Leben aussieht, deine Situation, mit wem du dich umgibst, wie stark du bist, wie klug du bist. Du kannst immer ausgenützt werden", so Eilish. Auch ihr sei so etwas widerfahren. Über ihre Erfahrung wollte Eilish nicht sprechen. Das würde von dem, worum es ihr gehe, ablenken. Zudem handle ihr Song von keiner bestimmten Person.
Das Thema Missbrauch geistert durch das gesamte Album, bereits in „Getting Older" heißt es: „I've had some trauma / Did things I didn't wanna / Was too afraid to tell ya / But now I think it's time." Dabei zeigt Eilish, dass sie keinesfalls Bekenntnispop fabriziert, sondern musikalisch auf der Höhe ihres Schaffens ist. In „Billie Bossa Nova" mischen sich etwa Versatzstücke von dem, was in den 1950er Jahren wohl als Romantik durchgegangen sein mag („I'm not sentimental / But there's somethin' 'bout the way you look tonight") mit Schlaglichtern der furchtbaren Konsequenzen eines so verstandenen Geschlechterverhältnisses („A lot can change in twenty seconds / A lot can happen in the dark") - „MeToo" als brüchiger Konzeptsong.
„Hellbraune" Musik auf schmalem GratEine Geschichte, die allgegenwärtig ist, mit wenigen Zeilen zu umreißen, allgemein geteilte Erfahrungen gleichzeitig konkret genug und so vage wie nötig zu besingen, das ist ein schmaler Grat, der nur von herausragenden Popmusikerinnen und Popmusikern erfolgreich begangen wird. Eilish ist geradezu Expertin darin, dieses prekäre Gleichgewicht immer und immer wieder herzustellen.
Eilish ist Synästhetikerin, ein Wahrnehmungsphänomen, bei dem mehrere Sinneseindrücke miteinander assoziiert werden. Für sie fühle sich die Single „Your Power" hellbraun an, heißt es in ihrem Statement zum Schaffensprozess. Dieses Gefühl habe sie bei dem gesamten neuen Album.
Generation MedienprofiHellbraune Töne herrschen auch auf dem Albumcover vor, das selbst auf interessante Weise mit der Kunstfigur spielt, die Eilish natürlich trotzdem als Popstar bleibt. Ihr Porträtbild, auf dem sie verletzlich und kurz nach dem Weinen gezeigt wird, entspricht deutlich mehr einer ikonischen Mariendarstellung, wie man sie aus der Kunstgeschichte kennt, als der authentischen Fotografie eines Teenagers, der „so glücklich wie nie zuvor" sein soll.
Der Titel lässt sich aber auch ironisch verstehen: Als Selbstbeschreibung eines Teenagers, der in der Umgebung der ununterbrochenen Selbstinszenierung auf sozialen Netzwerken - allen voran Instagram, wo Eilish mitunter in wenigen Stunden Millionen Likes auf ihre Posts erhält - eben „so glücklich wie möglich" ist. Eine weitere Interpretation des Titels ist im gleichnamigen kraftvollen Song angelegt: Am Ende einer belastenden Beziehung ist das lyrische Ich des Songs glücklicher als je zuvor - darüber, dass es aus ist. Eine weitere Variation des Herzschmerzes also.
Nicht von ungefähr heißt es, dass Eilish die Generation ihrer Hörer, allesamt Medienprofis der Selbstdarstellung, besser versteht als jeder andere Popstar. Ihre Themen auf „Happier Than Ever" sind solche, die ihre Generation umtreibt: die Neuaushandlung der Geschlechterverhältnisse, abwechselnde Macht- und Ohnmachtsgefühle junger Frauen in diesem Prozess und die quasi öffentliche Darstellung des eigenen Ichs in einer immer schneller getakteten Onlinewelt. Die Projektionen, die aufgrund des Online-Ichs entstehen, werden am direktesten in „Not My Responsibility" angesprochen: „Is my value based only on your perception? / Or is your opinion of me... / Not my responsibility?".
Drama mit AugenzwinkernAber auch die dunklen und mitunter ins Bizarre abgleitenden Aspekte von Eilishs Kosmos, die einen Teil der Wirkung früherer Songs ausmachten, dürfen neben gesteigertem Ernst und beeindruckender musikalischer Souveränität auf „Happier Than Ever" weiter bestehen und sorgen für die tanzbarsten und interessantesten Songs („Oxytocin", „Goldwing").
Im basslastigen „NDA" etwa singt sie über die dunklen Seiten ihres Erfolgs von Stalkern, eingeschränkten Freiheiten wie der Unmöglichkeit einer Party mit Freunden im eigenen Haus und lästigen Verpflichtungen, etwa wie sie nach dem Besuch eines „pretty boy" diesem eine titelgebende Vertraulichkeitsvereinbarung („Non-Disclosure Agreement") zum Unterzeichnen aushändigen musste. Alles kommt in diesem Song so dramatisch und gleichzeitig augenzwinkernd überzeichnet daher, dass man ihn auf mehrere Arten hören und gut finden kann - und das gilt für das gesamte Album, das die Erwartungen durchaus erfüllt.