Interview mit Elisa Satjukow über die NATO-Luftangriffe 1999
Felix Schilk: Der Zerfall Jugoslawiens und die Bombardierung Serbiens durch die NATO, die am 24. März 1999 begann, sind eng mit der politischen Herrschaft von Slobodan Milošević verbunden. Sie schreiben, dass mit seinem Amtsantritt im Jahr 1987 die »Rückkehr zu einer geschlossenen Gesellschaft« erfolgte. Was meinen Sie damit?
Elisa Satjukow: Die Zeit des sozialistischen Jugoslawiens unter Tito war für viele Menschen mit dem verbunden, was in der New York Times einmal »credit card communism« genannt wurde. Das soll nicht heißen, dass wir es auch hier mit einem autoritären System zu tun hatten, aber eben mit einem, dass unter dem Credo »Brüderlichkeit und Einigkeit« für viele Menschen ein verhältnismäßig gutes Leben erlaubte. Das erklärt auch die bis heute noch starke Rückbesinnung auf die sozialistische Vergangenheit, die Mitja Velikonja als »Titonostalgie« bezeichnet. Das verschleiert mitunter, dass das sozialistische Jugoslawien schon lange vor Titos Tod im Jahr 1980 an allen Enden und Ecken krankte. Mit dem Führungsvakuum, dass der allgegenwärtige »Druže Tito« hinterließ, haben sich die politischen und wirtschaftlichen Probleme in voller Wucht Bahn gebrochen und alte Nationalismen, die schließlich in den kriegerischen Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens mündeten, neu aufleben lassen.
Slobodan Milošević war ein Symptom dieser Zeit.
Er versprach Stabilität und Perspektiven in einer Phase der Neuorientierung.
Was die Ära Milošević jedoch
brachte, waren Gewalt, Chaos und Stagnation. Wenngleich Serbien lange Zeit nur
indirekt von den Kriegen in den Nachbarländern betroffen war, waren die Auswirkungen
in Form von Mobilisierungen, Sanktionen und zunehmender internationaler
Isolation im täglichen Leben deutlich spürbar.
Sie schreiben auch über die »langen« und »wilden« 1990er Jahren, die in Serbien als permanenter Ausnahmezustand erfahren wurden. Wie muss man sich diese Zeit vorstellen?
In diesen chaotischen Zeiten etablierte sich eine neue Herrschaftsordnung, in der sich einige wenige stark bereicherten, nicht zuletzt durch kriminelle Machenschaften. Die Mehrheit der Bevölkerung sah sich jedoch mit Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit konfrontiert. Der Begriff der »wilden 90er« stammt ursprünglich aus Russland, wo sich zur selben Zeit eine ganz ähnliche Transformation vollzog. Der Anthropologe Jarret Zigon spricht mit Blick auf die ehemalige Sowjetunion von einem gesamtgesellschaftlichen moral breakdown, einem moralischen Zusammenbruch, in dem es galt, einen kohärenten, allgemein akzeptierten und post-sozialistischen Begriff von Moral neu zu formulieren. Die Menschen in Serbien standen vor der gleichen Herausforderung. Diese Suche nach Normalität ist gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Die NATO-Bombardierungen von 1999, so argumentiere ich in meinem Buch, markierten den Kulminationspunkt dieser Erfahrung eines permanenten Ausnahmezustandes der langen 90er Jahre. Diese begannen spätestens Mitte der 80er Jahre und dauern in mancher Hinsicht bis heute an, wenn wir uns die Politik des ehemaligen Milošević-Gefolgsmannes und derzeitigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić anschauen.
Begann mit den NATO-Bombardierungen der Anfang vom Ende der Ära Milošević?
Da würde ich widersprechen. Der Anfang vom Ende der Ära Milošević waren meiner Meinung nach die Proteste im Winter 1996/97. Damals gingen über drei Monate hinweg Hunderttausende täglich auf die Straße, um ein Ende der Kriegspolitik und der Milošević-Regierung zu fordern. Letztlich lag es an der Gespaltenheit der Opposition, dass sich ein neues und demokratisches Bündnis nicht langfristig durchsetzen konnte. Milošević nutzte den seit zwei Jahrzehnten andauernden Konflikt in Kosovo darum, um seine eigene Macht zu sichern. Nichts ist schließlich verbindender als ein gemeinsamer Feind. Für die politische Opposition stellte die Situation eine doppelte Herausforderung dar: Zwei in Vorbereitung auf den Krieg in Kosovo im Jahr 1998 verabschiedete Gesetze beschnitten einerseits ihre Handlungsfähigkeit – die Einschränkung der Pressefreiheit sowie der Freiheit der Universitäten trafen die Opposition hart. Andererseits sahen sich die Menschen in Serbien zunehmend allein gelassen vom demokratischen Ausland, das seit Beginn der 90er Jahre eine wichtige finanzielle und ideelle Unterstützung für die neu formierte serbische Zivilgesellschaft bot. Mit der zunehmenden Eskalation in Kosovo im Laufe des Jahres 1998 brach diese Unterstützung immer weiter weg. Wenige Monate vor Beginn der Bombardierung gründete sich noch die Otpor!-Bewegung, die zwei Jahre später zur entscheidenden Kraft beim Sturz von Milošević werden sollte.
Vor und während der Bombardierungen wurden im Kosovo systematisch Albaner:innen vertrieben. Wieviel davon war in der serbischen Gesellschaft präsent und wie haben sich die Menschen dazu verhalten?
Mit dem Ende des sozialistischen Jugoslawiens nahmen die Kämpfe der albanischen Bevölkerung des Kosovo um Anerkennung zu. Während Kosovo zuvor als eine von zwei unabhängigen Provinzen (neben der Vojvodina) weitreichende Rechte innerhalb des föderalen Staatenbundes genoss, so hob Milošević diesen Autonomiestatus 1986 auf. Zu diesem Zeitpunkt war die Verdrängung der mehrheitlich albanischen Bevölkerung durch die regierenden serbischen Eliten bereits in vollem Gange. Es etablierte sich ein sogenannter albanischer ›Schattenstaat‹. Lange Zeit blieb dieser Widerstand friedlich. Das änderte sich mit dem Ende des Bosnienkrieges 1995 und der territorialen Neuordnung des Nachbarlandes bei den Friedensverhandlungen von Dayton. Wenn hier Grenzen auf dem Reißbrett gezogen werden konnten, warum passierte das dann auch nicht für das Kosovo? Aus der Enttäuschung einer internationalen Ausklammerung der Kosovo-Frage formierte sich die Guerilla-Armee UÇK und trat erstmals 1996 mit militärischen Anschlägen aufs Parkett. Im Laufe des Jahres 1998 eskalierten die Kampfhandlungen immer weiter, schon früh drohte die internationale Gemeinschaft noch unter dem Eindruck der Menschenrechtsverbrechen in Bosnien mit einem militärischen Eingreifen. Wenngleich die Gewalt gegen die kosovo-albanische Bevölkerung nicht erst mit Beginn der Bombardierung einsetzte, so lässt sich dennoch konstatieren, dass der Abzug sämtlicher internationaler Beobachter:innen aus dem Kosovo der serbischen Seite gewissermaßen eine carte blanche gegeben hat. Nun konnten Armee, Polizeikräfte und die bereits in den vorangegangen Kriegen geübten paramilitärischen Truppen morden, ohne dass jemand dabei zusah. Erst nach dem Ende der Luftangriffe und der schockierenden Bilanz von 800.000 Kosovo-Albaner:innen auf der Flucht, mehr als 8.000 Toten und unzähligen vergewaltigten, traumatisierten und entwurzelten Menschen wurde sichtbar, was die Intervention eigentlich ausgelöst hatte.
In Serbien
waren diese Verbrechen offiziell nicht bekannt. Das Feindbild NATO diente als
Deckerzählung, um den Menschen zu verkaufen, dass die Bilder von flüchtenden
Albaner:innen, die Tag und Nacht durch die internationalen Medien gingen,
entweder eine Propagandalüge des Westens oder aber Folge der NATO-Luftangriffe
waren. Aus serbischer Sicht gab es auch keinen Krieg im Kosovo, sondern
lediglich ein Vorgehen gegen die terroristische Vereinigung der UÇK als Feind
im Inneren. Natürlich war den meisten Menschen, die über Satellitenfernsehen
und alternative Informationsquellen abseits der zensierten serbischen Medien
verfügten, klar, dass die Gewalthandlungen, die zeitgleich zur Bombardierung in
Kosovo stattfanden, weit größere Ausmaße hatten und die serbische Seite daran
massiv beteiligt war. Doch bis auf die wenigen zivilgesellschaftlichen
Organisationen, die sich auch schon vor dem Krieg für die albanische Sache
eingesetzt hatten, war die Mehrheit der serbischen Gesellschaft mit ihrem
eigenen Krieg, also den täglichen Bombenangriffen, beschäftigt.
Wie haben die politische Opposition und die serbische Zivilgesellschaft auf die Bombardierungen reagiert?
Aus Angst vor
der Willkürherrschaft der Milošević-Regierung
zogen sie sich mit Beginn der Bombardierung weitgehend ins innere oder äußere
Exil zurück. Der serbische Soziologe Božidar Jakšić brachte das
Dilemma der doppelten Handlungsunfähigkeit auf die Formel: »NATO planes in the
sky, Milošević on the ground«.
Durch die Bomben der NATO waren die Menschen also nicht nur den Gefahren von
oben ausgesetzt, sondern eben auch von ›unten‹, durch einen im Modus des
Kriegsrechts regierenden Milošević.
Das Beispiel des am Ostersonntag während der Bombardierung auf offener Straße
ermordeten regierungskritischen Verlegers Slavko Ćuruvija zeigt deutlich, wie
akut sich die Gefahrenlage darstellte. Dennoch gab es seitens der Opposition
Bemühungen, national und international gehört zu werden. Davon zeugen
zahlreiche Stellungnahmen, die sich gegen die Bombardierungen und auch gegen
die Gewalt in Kosovo aussprachen und in Zeiten von Kriegspropaganda und Zensur zumeist
im Internet ihre Verbreitung fanden. Vor allem weil nur wenige Menschen zu
diesem Zeitpunkt über einen Internetzugang verfügten, haben diese digitalen
Pionier:innen Quellenmaterial von unschätzbarem Wert hinterlassen, dass ich
unter dem Gesichtspunkt des von Thomas Keenan als »first internet war«
beschriebenen Kosovokrieges in meiner Arbeit fruchtbar mache.
Wie sah der Alltag während der Bombardierungen aus? Wie ist die Bevölkerung damit umgegangen?
Der alltägliche
Umgang mit der Bombardierung lässt sich grob in drei Phasen unterteilen. Mit
Beginn der ersten Luftangriffe am 24. März herrschten zunächst Panik und
Unsicherheit. Mit was für einem Krieg hatten es die Serb:innen hier zu tun? Wie
akut war die Gefahr für einen selbst? Viele flüchteten sich in Luftschutzkeller
oder zu ihren Familien aufs Land, um dort das Ende der Bombardierungen
abzuwarten. Dann folgte eine Phase der Adaption. Die Menschen sahen, dass die
Bomben vor allem nachts fielen und insbesondere militärstrategische Ziele
trafen. Sie sahen aber auch, dass die NATO-Flugzeuge aus höchster Höhe nicht
immer präzise zielten, oder die Ziele inmitten von belebten Orten lagen. Es
galt also, das eigene Gefahrenempfinden zu kalkulieren und, je nachdem, wie
ängstlich oder betroffen von potenziellen Luftangriffen man selbst war, so
variierte auch das Verhalten. Die dritte Phase der Bombardierung war die des
Wartens auf ihr Ende. Ab Mai verschärfte die westliche Militärallianz noch
einmal ihr Vorgehen, zu diesem Zeitpunkt wurde auch über den Einsatz von
Bodentruppen diskutiert und die Bombardierungen nahmen an Intensität zu.
Mitunter lag das gesamte Energienetz lahm und die Menschen waren tagelang ohne
Wasser und Strom. Auch immer mehr Söhne kamen nicht mehr aus den Kämpfen im
Kosovo zurück. Es kam zu Protesten von Angehörigen, die Menschen waren müde und
resignierten. Der Journalist
Aleksandar Ćirić hat das treffend beschrieben: »These days, when a Belgrader
asked: ›How are you doing?‹, the answer
is: ›I’m waiting.‹«
In ihrem Buch taucht immer wieder der serbische Begriff »Inat« auf. Was hat es damit auf sich?
»Inat« bedeutet im Serbischen soviel wie ›Trotz‹. In nationalistischen Kreisen wird damit gewissermaßen eine genuin serbische Charaktereigenschaft beschrieben, mit der im Kontext der NATO-Bombardierung eine besondere Resilienz der Serb:innen behauptet wurde. Bei Bombenalarm eben nicht im Luftschutzkeller auszuharren, sondern auf der Straße gemeinsam Bier zu trinken oder auf den Brücken mit einer Zielscheibe auf der Brust die Bombenflugzeuge herauszufordern.
In den Ländern des Balkans haben Sarkasmus und Zynismus eine wichtige kulturelle Funktion. Mit Blick auf die Bombardierungen sprechen Sie außerdem von Humor als Coping-Strategie.
Humor war ein durch alle gesellschaftlichen Schichten hinweg verbindender Trost angesichts der allgegenwärtigen Belastungen. Er wurde im Alltag der Bombardierung zur Ausdrucksform, gerade auch in einer Situation, in der es sonst nicht viel zu tun gab. Um nur einige Beispiele zu nennen: Als die serbische Luftabwehr einen amerikanischen Tarnkappenbomber abgeschossen hatte, verbreitete sich im Internet ein Bild der abgeschossenen F-117 mit dem Kommentar »Sorry, we didn't know it was invisible«. Der humoristische Umgang mit dem Krieg funktionierte hier als Ventil für patriotischen Stolz in einem kurzen Moment der Überlegenheit über die NATO. Transparente mit der Aufschrift »Clinton, Serbia is not Monica« machten sich über die Affäre des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit Monica Lewinsky lustig – und demonstrierten dabei moralische Überlegenheit über den Westen. Die Belgrader Fußgängerzone glich, so beschrieb es die Spiegel-Korrespondentin Renate Flottau in ihrem Tagebuch der Bombardierung, sogar einer »Clinton-Horror-Show«. Auch Selbstironie war wichtig und zeigte sich beispielsweise in der Begrüßungsformel »Bombardan«, einem Wortspiel aus ›Guten Tag‹ (dobar dan) und ›bombardiert werden‹ (bombardovan) oder in Witzen wie »Wenn du auf die Straße gehst, dann schaust du erst nach links, dann nach rechts - und dann nach oben!« Sowohl die selbstironische als auch die patriotisch-nationalistische Verwendung von Humor im Umgang mit der Bombardierung zeugen von einer Strategie der Vergemeinschaftung, die das nationale Kollektiv entweder als heroischen Gegner im Kampf gegen die NATO präsentierte, oder aber als gebeutelte Gemeinschaft, deren tragisches Schicksal unausweichlich schien.
In einem Kapitel schreiben sie über die »Bombardierung als Happening«. Was meinen Sie damit?
Während manche Personen jede Nacht der dreimonatigen Bombardierung im Luftschutzkeller verbrachten, boten bombenfreie Zeiten anderen eine willkommene Abwechslung. Sie lenkten sich ab, gingen feiern. Darum auch der Begriff »Happening« – die Bombardierung bedeutete insbesondere für die jüngere Generation auch eine entgrenzte Zeit der Gemeinschaft, der Regellosigkeit und eines morbiden Hedonismus. Diesem Drang zu Vergemeinschaftung und Ablenkung machte sich auch Milošević zunutze, indem das Regime tagtäglich Konzerte auf großen Plätzen verschiedener serbischer Städte organisierte, die dann aber vor allem auch zur politischen Inszenierung eines gemeinsamen Widerstands gegen die NATO-Bomben dienten. Mit Zielscheiben, auf denen »TARGET« zu lesen war, versammelten sich die Leute auf den staatlich organisierten Konzerten, auf Plätzen und Brücken und formierten sich damit – bewusst oder unbewusst – als »menschlicher Schutzschild«, wie das kriegsstrategisch heißt. Sie schützten mögliche Angriffsziele also gewissermaßen mit ihren Körpern und machten sich damit zu potenziellen Opfern der NATO-Intervention. Dieses Narrativ eines kollektiven Heroismus, der auch vor einem Märtyrertum nicht zurückschreckt, geht zurück auf den Kosovo-Mythos. Die Zuschreibung der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 durch Milošević und andere als »Wiege des Serbentums« zeigt, wie seitens nationalistischer Akteur:innen seit den 1980er Jahren versucht wurde, das nationale Selbstverständnis der Serb:innen auf ein vermeintlich historisches Opferbewusstsein zu gründen, um wiederum vermeintlich unabwendbare »Kämpfe« im Hier und Jetzt zu legitimieren.
Konnte Milošević von den Bombardierungen politisch profitieren?
Ja und nein. Zunächst versammelten sich große Teile der Gesellschaft angesichts des gemeinsamen übermächtigen Gegners NATO hinter Milošević. Wenngleich dies nicht unbedingt aus Überzeugung für das Regime passierte, so mobilisierte auch dieser Krieg, wie das Kriege immer tun, einen starken Patriotismus innerhalb der Gesellschaft. Der Wunsch nach Ablenkung und Vergemeinschaftung der Menschen angesichts einer Situation, der sich die meisten absolut hilflos gegenübersahen, wurde von Milošević genutzt, um den Rückhalt innerhalb der Gesellschaft nach außen hin sichtbar zu machen. Die oben beschriebenen sogenannten ›Antikriegskonzerte‹ dienten dafür zunächst als ideale Plattform, wenngleich viele Menschen schon bald fernblieben, als das musikalische Rahmenprogramm immer mehr hinter den propagandistischen Botschaften zurücktrat.
Wenngleich Milošević also kurzfristig von der NATO-Intervention profitierte, weil sie ihm erneuten Rückhalt innerhalb der Gesellschaft verschaffte, so verflüchtigte sich dieser Effekt mit dem Fortschreiten der Bombardierung. Der Friedensvertrag von Kumanovo am 9. Juni 1999 und damit das Ende des Kosovokrieges brachte dann auch nur wenig Erleichterung. Das Land war zerstört, verschuldet, verschrien und Milošević war noch immer an der Macht. Mit dieser sehr düsteren Bilanz formierte sich dann erneuter Protest, der dann im Sommer 2000 unter der allgegenwärtigen Faust der Otpor!-Bewegung die entscheidende Schlagkraft entwickelte, um einen politischen Wandel herbeizuführen. Natürlich lässt sich nur darüber spekulieren, inwiefern die NATO-Bombardierung nun der entscheidende Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte, oder ob es auch unter weniger gewalttätigen Vorzeichen einen Machtwechsel gegeben hätte.
Seit 2014 ist der Populist Aleksandar Vučić serbischer Präsident. Vučić fungierte unter Milošević als Informationsminister und war während der Bombardierungen für die Regierungspropaganda zuständig. Wie haben sich die serbische Gesellschaft und die Erinnerungspolitik in seiner Regierungszeit verändert?
Mehr als 20 Jahre nach Ende des Kosovokrieges lassen sich in Hinblick auf die serbische Erinnerungspolitik grob drei Phasen unterscheiden: Da ist zunächst die Nachkriegsphase bis zum Sturz von Milošević im Oktober 2000, in der das hegemoniale Narrativ einer heldenhaften Verteidigung der serbischen Gesellschaft gegen die Übermacht der NATO am 24. März in Form eines Gedenktages zementiert wurde. Nach der demokratischen Wende bis zum erneuten Kurswechsel 2014 änderte sich am Tag selbst zwar nicht viel, aber das Gedenken geriet zu Gunsten einer pro-europäischen Orientierung und einem generellen Kurs der Versöhnung nahezu in Vergessenheit. Das änderte sich dann 2014 mit der Wiederwahl der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) und der Ernennung Aleksandar Vučićs zum Ministerpräsidenten. Der 24. März 2015, also der 16. Jahrestag der NATO-Bombardierung, ist hier als eine entscheidende erinnerungspolitische Zäsur zu begreifen. Wieder rückte das Martyrium der serbischen Gesellschaft ins Zentrum der öffentlichen Gedenkpolitik. In meinem Buch spreche ich von der politischen Instrumentalisierung der »NATO-Aggression«, ein Begriff der Milošević-Ära, als moderner Kosovo-Mythos. Unter dem Dogma »Vergeben, aber nicht vergessen« verspricht Aleksandar Vučić heute erneut, das geläuterte Land in eine bessere Zukunft zu führen. Seit nunmehr 20 Jahren werden dabei das Schicksal der kosovo-albanischen Bevölkerung und die serbische Verantwortung dafür öffentlich beschwiegen.
Bei ihren Schilderungen des »Alltags unter Bomben« musste ich manchmal an den aktuellen pandemiebedingten Ausnahmezustand denken. Sehen Sie Parallelen im Umgang mit den Bombardierungen und dem Management der aktuellen Pandemie?
Ja, auf jeden Fall! In Hinblick auf die oben beschriebenen Phasen des Umgangs mit einem unerwarteten Ausnahmezustand sehe ich viele Parallelen. Es war mitunter richtig gruselig, mein Manuskript zu überarbeiten und dabei noch einmal schwarz auf weiß zu lesen, was sich in ähnlicher Form auch zeitgleich um mich herum abspielte. In gewisser Weise – und das war für mich eine interessante Erkenntnis – macht es gar keinen so großen Unterschied, ob der Ausnahmezustand durch Bomben oder ein unbekanntes Virus herbeigeführt wird. Entscheidend ist vielmehr, wie die Angst der Menschen vor diesem großen Unbekannten individuell und politisch gemanagt wird. Hier und da herrschen zunächst Panik und Unsicherheit, wie man sich am besten verhalten soll. Umso mehr Wissen über die Gefahrenlage akkumuliert wird, umso besser können wir uns dann dieser neuen Situation anpassen. Die Soziologin Teresa Koloma Beck beschreibt das als Rekonfiguration einer neuen Normalität, in der wir neben den destruktiven Dimensionen des Krieges – der Zerstörung von Körpern, Leben und Strukturen –, auch die produktiven und kreativen Facetten erkennen und uns in diesem neuen Alltag der Ausnahme einrichten. Zuletzt folgt dann die Phase der Ermüdung und des Wartens auf ein Ende des Ausnahmezustands. Da sind wir gerade.
Wie wirkt sich die Pandemie auf die aktuelle Politik in Serbien aus?
Südosteuropa war und ist von der Corona-Pandemie bis heute durch eine allerorten schlechte medizinische Infrastruktur stark betroffen. Am 24. März 2020, dem jährlichen Gedenktag an die NATO-Bombardierung, titelte die größte serbische Tageszeitung Politika: »Strah od bombi zamenila korona« (Die Angst vor Bomben ersetzt durch Corona). Das ist genau das, was ich oben meinte – es geht um den Umgang mit der Angst, individuell und gesellschaftlich. Wieder verharren die Menschen zu ihrem eigenen Schutz in ihren Heimstätten, oder auch nicht. Nur anders als damals ist die Gemeinschaft nicht mehr Trost, sondern die potenzielle Gefahrenquelle. Das macht das Erleben und Überleben des Ausnahmezustandes so viel schwieriger. Politisch gesehen erleben wir in Serbien auch gerade die Reaktivierung bekannter Freund- und Feindbilder. So sind es die orthodoxen und post-sozialistischen »Bruderstaaten« China und Russland, die in der Krise helfen und deren Impfstoff man eher vertraut als dem europäischen Markt. Vor noch nicht allzu langer Zeit demonstrierte die Protestbewegung »Einer von fünf Millionen« gegen die anhaltende politische Rechtsverschiebung. Vučić nutzt nun die Corona-Krise, um die eigene Macht zu sichern und zu erweitern, das sehen wir zum Beispiel in Hinblick auf die immer kritischere Situation unabhängiger serbischer Medien und Journalist:innen.
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