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Chen Tianzhuo - Zeremonienmeister für ekstatische Rituale * China.Table

„Nehmt keine Drogen“, fordert Chen Tianzhuo seine 12-köpfige Truppe kurz vor dem großen Auftritt auf. Dabei wären Aufputschmittel heute Nacht durchaus hilfreich: Ganze zwölf Stunden wollen die „Asian Dope Boys“, so der Name von Chens Kunst-Kollektiv, im Berliner Techno-Club „Traumabar“ durchtanzen, singen, schreien, sich in eigens angekarrtem Schlamm wälzen und selbsterfundene Stammesrituale abhalten, bis sie selbst, aber auch das Publikum, in einen außerkörperlichen Zustand eintreten. Drogen, so der schüchtern wirkende Zeremonienmeister, würden die authentische Trance-Erfahrung nur verfälschen.



Der 1985 in Peking geborene Chen Tianzhuo ist einer der originellsten und provokantesten Künstler Chinas. In seinen Inszenierungen verschmelzen zeitgenössische Kunst, Avantgarde-Theater, archaische Rituale und ekstatische Clubkultur zu einer surrealen Traumwelt. Seine Kulissen und Kostüme wirken, als seien die Dämonen tibetischer Thangka-Rollbilder in grellbunter Computerspielästhetik wiederauferstanden. 



Der Künstler, der selbst tibetischen Buddhismus praktiziert, möchte „kollektive Rituale“ erschaffen, die in der Gegenwart verankert sind, ihre Inspiration aber auch aus traditionellen Trance-Tänzen aus Tibet, Indonesien und den Philippinen schöpfen. Besonders in den großen Städten Chinas sei rituelle Spiritualität so gut wie ausgestorben, sagt Chen. „Unserer heutigen Zeit mangelt es an Märchen und Mythologien. Als kapitalistische Gesellschaft haben wir neue Mantras kreiert: Just Do It!  Ich möchte Rituale kreieren, die eine Gemeinschaft erschaffen, die auf Selbstermächtigung und der Freiheit von starren Systemen basiert.“



Chinas Kunstszene hinkt hinterher



Angefangen hat Chen, der bei seinen Performances meist im Hintergrund bleibt, als Maler und Designer. Seinen Master machte er am Chelsea College of Art and Design in London. Nach seinem Abschluss wollte er jedoch unbedingt zurück nach China. „Die Kunstszene in China hinkt fast jeder größeren europäischen Stadt hinterher. Das bedeutet aber auch, dass man hier noch herausfordernde Dinge auf die Beine stellen kann.“ In seiner Heimat sind seine Performances, die oftmals Nacktheit beinhalten, vor allem in Techno-Clubs und anderen Off-Spaces zu sehen. Das sei weniger offiziell als Theater und Galerien, und damit auch weniger der Zensur unterworfen, sagt Chen. 



Obwohl er so auch am chinesischen Kunstmarkt und seinen wohlhabenden Sammlern vorbeiproduziert, ist sein Einfluss in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Künstler aus ganz Asien, aber auch aus Europa kamen nach Shanghai, um mit ihm zu arbeiten. Seine Asian Dope Boys standen für ein neues Selbstbewusstsein junger asiatischer Künstler, die sich global orientieren, sich westlichen Erwartungshaltungen aber nicht mehr anbiedern. „Die jungen Leute waren hungrig nach unseren Veranstaltungen, nach Kunst und Musik“, sagt Chen. Doch dann kam die Pandemie: „Ich fühlte mich, als sei ich in Rente gegangen.“ Über zwei Jahre habe er in seinem Shanghaier Studio mit der Planung von Events verbracht, die dann nicht stattfinden konnten. Die Clubszene, sein liebstes Habitat, war monatelang stillgelegt. „Irgendwann hatte ich davon genug und habe wieder angefangen zu malen“, sagt Chen.



Der Auftritt in Berlin ist seine erste große Performance seit über zwei Jahren. „Ich weiß nicht, ob die Pandemie meine Energie komplett ausgesaugt hat. Kann ich sowas noch durchziehen?“, fragt Chen unsicher, während seine Crew zum Abendessen in den Sommerabend ausschwärmt. Der nächste Morgen zeigt, dass die Angst unbegründet war. Ausgelaugt und glücklich liegen sich die Performer in den Armen. Die Kulissen liegen zerschossen am Boden. „Wir sind definitiv an unsere eigenen Grenzen gegangen und haben gemeinsam ein Universum erschaffen, das irgendwie von selbst weitergewachsen ist“, sagt Chen. „Diese Nacht wird mich noch eine lange Zeit motivieren.“ F

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