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Arbeitskultur in China: Fressen und gefressen werden

Chinas ausbeuterische Arbeitskultur fordert immer mehr Opfer. Besonders in großen Tech-Firmen geraten die Mitarbeiter schnell an den Rand des Zusammenbruchs. Unbezahlte Überstunden sind selbstverständlich. Wer nicht mitmacht, wird ausgetauscht. Ein ehemaliger Produktmanager des Liefer-Giganten Meituan erzählt China.Table, unter welchem Druck Chinas Angestellte stehen. 
                
Ende Januar ging der Post von Zhang Yifei in China viral. Darin prangerte der 25-jährige Chinese öffentlich die Arbeitsbedingungen bei seinem Arbeitgeber Tencent an. „Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass es für ihre Angestellten um Leben und Tod geht, wenn sie solche Zeitpläne aufstellen?“, empörte er sich in einer unternehmensinternen Chat-Gruppe mit 600 Mitgliedern.

Einer von Zhangs Kollegen war zuvor vom Management dafür gelobt worden, dass er mehr als 20 Stunden am Stück gearbeitet und dabei rund 200 Änderungen an einem Produktdesign vorgenommen hatte. So konnte es noch wie geplant an den Start gehen. „Eine schrittweise Tötung zum ehrenvollen Ansporn umzudeuten, könnte man als schwarzen Humor bezeichnen. Aber jeder Entscheidungsträger, der so etwas möglich macht, ist ein Komplize“, ätzte der erst wenige Monate zuvor eingestellte Programmierer und reichte kurz darauf seine Kündigung ein. Seine Kompromisslosigkeit machte Zhang über Nacht zum Helden vieler überarbeiteter Chinesen.



Über die teilweise unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Chinas Tech-Industrie beschweren sich viele. Konsequenzen zu ziehen, gar zu kündigen, trauen sich jedoch nur die wenigsten. Im Gegenteil: Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu tragischen Todesfällen, die auch auf die Folgen von Überarbeitung zurückzuführen sind.



Erst Anfang dieses Monats war ein 25-jähriger Angestellter der erfolgreichen Video-Plattform Bilibili an einer Gehirnblutung gestorben. Kurz zuvor hatte er über das chinesische Neujahrsfest in der Firmenzentrale in Wuhan fast durchgängig gearbeitet. Der Job des jungen Mannes bestand darin, die sekündlich neu einlaufenden Videos auf „illegale oder verletzende Inhalte“ zu prüfen – eine Arbeit, die so monoton und seelenlos ist, dass sie auch als „Fließbandarbeit der Internetära“ bezeichnet wird.



Überstunden als Selbstverständlichkeit



Eine prägnante Abkürzung, die sich für Chinas ausuferndes Arbeitspensum etabliert hat, lautet „996“: Von Mitarbeitern, insbesondere in der Tech-Branche, wird erwartet, dass sie von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends an sechs Tagen in der Woche arbeiten. „Das Arbeitsleben in China ist hochgradig von Wettbewerb bestimmt“, sagt John Wang. Der 31-Jährige war bis vor einem Jahr für den chinesischen Tech-Giganten Meituan als Produktmanager tätig. Seit August 2021 lebt er in Leipzig, wo er seinen MBA an der HHL Graduate School of Management macht. Nach Deutschland kam er auch, um dem harten Arbeitsalltag in China zu entkommen. 



„Mein Arbeitstag ging offiziell von 10 bis 21 Uhr. Aber meistens fing ich um acht morgens an und ging erst um 23 Uhr nach Hause„, erinnert er sich im Gespräch mit China.Table. Es herrschte ein immanenter Druck, abends als Letzter das Büro zu verlassen, sagt der studierte Physiker. „Und wenn du es doch früher nach Hause geschafft hast, hörte die Arbeit nicht auf. Du musstest immer erreichbar sein und sofort antworten, wenn eine Frage hereinkam. Dein Körper war zu Hause, aber deine Aufmerksamkeit war immer noch bei deinem Job.“



Dem chinesischen Arbeitsgesetz von 1994 zufolge beträgt die Standardarbeitszeit acht Stunden pro Tag und maximal 44 Stunden pro Woche. In einer Umfrage der Zeitung Chengdu Economic Daily gaben jedoch mehr als die Hälfte der befragten Arbeitnehmer an, dass sie jeden Tag Überstunden leisten, wobei nur 44 Prozent dafür auch eine Vergütung erhielten. Arbeitgeber argumentieren, dass ihre Mitarbeiter sich „freiwillig“ dafür entscheiden, Überstunden zu machen und dabei auf zusätzliches Geld verzichten würden.



Der Tech-Gigant Huawei ließ sich diese „Freiwilligkeit“ sogar von Mitarbeitern schriftlich bestätigen. Andere erklären, potenzielle Überstunden seien bereits im Gehalt inbegriffen. Gegen die Verhältnisse aufbegehren kann man kaum, wenn man seinen Job behalten will. Unabhängige Gewerkschaften sind in der Volksrepublik verboten.



Chinas Mittelschicht: Zwischen Burn-Out und Selbstbestimmung



Bleibt also nur das Internet, um seinem Ärger anonym Luft zu machen. Im Januar 2021 kursierte dort eine Liste, auf denen Mitarbeiter großer chinesischer Tech-Unternehmen ihre Arbeitszeiten miteinander verglichen (China.Table berichtete). Betitelt war das Dokument mit 996.ICU – nach der englischen Abkürzung für „intensive care unit“: Notaufnahme. Innerhalb von nur drei Tagen hatte die Tabelle bereits mehr als 1.000 Einträge. Dann wurde sie von Zensoren aus dem chinesischen Netz gelöscht.



Als Antwort auf die öffentliche Diskussion erklärten Chinas Oberster Volksgerichtshof und das Ministerium für Human Ressources and Social Security (MOHRSS) im vergangenen August immerhin, dass chinesische Arbeitnehmer nicht mehr als 36 Überstunden pro Monat und drei Überstunden pro Tag leisten dürften. Doch nicht alle Mitarbeiter freuten sich darüber. „Wenn man bei einem Unternehmen wie Meituan oder Tencent arbeitet, ist man auf Überstunden vorbereitet. Auch, weil die Gehälter so hoch sind“, erklärt Wang. „Viele Mitarbeiter waren auf den besten Universitäten des Landes.“



Chinas wachsende Mittelschicht ist einerseits stolz auf den erreichten Wohlstand, andererseits wächst der Wunsch, diesen Wohlstand mit mehr Freizeit genießen zu können. Für Chinas Unternehmen waren Überstunden lange Zeit auch ein Überlebensfaktor: Was den chinesischen Start-ups an finanziellen Mitteln und Know-how fehlte, glichen sie mit niedrigen Arbeitskosten, Geschwindigkeit und Flexibilität aus – alles Dinge, die von schnell austauschbarer Manpower abhängig sind.



Huawei-Gründer Ren Zhengfei nannte das Arbeitsumfeld seiner Firma stolz „Wolf-Kultur“. Wenn die Mitarbeiter untereinander zwischen Fressen und gefressen werden konkurrieren, schlage sich das in einer größeren Wettbewerbsfähigkeit der Firma nieder. Wer da nicht mitmacht, fällt schnell durchs Raster, sagt Wang. „Wenn du den Job nicht machen willst, macht ihn jemand anders mit noch mehr Überstunden.“ 



Newcomer arbeiten extra hart, um sich zu beweisen



In China drängen allein in diesem Jahr mehr als zehn Millionen neue Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt. Unternehmen bevorzugen junge Angestellte unter 30, da sie schlicht als energetischer gelten. Zudem sei ihre Bezahlung niedriger als die eines langjährigen Mitarbeiters, erklärt Wang. „Wenn du mit 35 noch keinen leitenden Posten ergattert hast, wird es mit jedem Jahr wahrscheinlicher, dass du plötzlich entlassen wirst.“ Auch dagegen gäbe es keine rechtliche Handhabe.



„Die Unternehmensführung sagt dir nicht, du bist gefeuert, weil du zu alt bist. Sie erklären dir zum Beispiel, dass deine Arbeit hinter ihren Erwartungen zurückbleibt. Jedes Jahr werden so viele ältere Mitarbeiter entlassen, damit man neue einstellen kann. Und die Newcomer arbeiten oft extra hart, weil sie sich beweisen wollen.“



Unternehmen wie Meituan oder Huawei bevorzugen bei ihrer Personalsuche oft Absolventen aus kleineren Städten, die ihren „ersten Topf voll Gold“ (第一桶金 dìyī tǒng jīn) verdienen wollen, um in die Mittelschicht aufzusteigen. Die Versagensangst ist groß, der Druck, es zu schaffen, bringt die Menschen schnell an den Rand des Zusammenbruchs. Der „Burn-Out“ sei als Konzept noch nicht in China angekommen, sagt Wang. „Man hört vielleicht mal davon, aber man fragt sich nicht, ob man selbst darunter leidet. Man denkt, man hat Stress. Man denkt, das ist eben das, was man tun muss, um Karriere zu machen.“

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