Der Autor und Sinologe Fabian Peltsch hat im Mint-Magazin die aktuelle Titelgeschichte über die „Vinyl-Kultur in China“ geschrieben. Herr Peltsch, herzlich willkommen. Erleben Schallplatten in China denn auch eine Renaissance wie bei uns?
Ja, dort gab und gibt es auch einen Vinyl-Trend. Es läuft in China aber tatsächlich einiges anders und vieles im Verborgenen, was vor allem daran liegt, dass der Staat nach wie vor ganz genau bestimmen will, was ins Land kommt oder was vor Ort gepresst wird. Jeder Tonträger braucht eine staatliche Lizenz, um legal verkauft werden. Alles wird von den Behörden geprüft, von den Texten bis zum Cover. Bei dem bürokratischen Aufwand kommen am Ende vor allem Mainstream-Stars offiziell auf den Markt, was für Sammler natürlich total unbefriedigend ist.
Wie gehen die Plattenhändler damit um?
Als Plattenhändler muss man sich in China sehr selbstbewusst in Grauzonen bewegen. Viele verkaufen Second Hand Ware oder importieren nur sehr kleine Stückzahlen aus dem Ausland. Theoretisch ist aber auch das illegal. Eine gängige Praxis ist tatsächlich immer noch, den lokalen Polizeibeamten zu bestechen, damit er wegsieht. Eine Protagonistin meiner Geschichte umgeht das System der kleinen Gefälligkeiten, indem sie ihren Plattenladen in einer Wohnung im achten Stock untergebracht hat. Falls die Polizei kommt, sagt sie, es handelt sich einfach um ihr Wohnzimmer, und die Kunden sind bloß Freunde, die in ihrer Privatsammlung stöbern.
Eine besonderes, China-spezifisches Phänomen, das Sie in ihrem Text erwähnen, sind die sogenannten „Dakous“. Was hat es damit auf sich?
China war viele Jahre der größte Importeur von Müll, woraus das Land Rohstoffe recycelt hat, um sein Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Auch große westliche und japanische Plattenfirmen haben ihre unverkauften Überschüsse als Recycling-Müll nach China verschifft. Vorher hat man die Hüllen noch maschinell angeritzt, damit man sie nicht weiterverkaufen konnte. Der chinesische Begriff „Dakou“ heißt soviel wie „Sägespur“. In China landeten diese Tonträger - CDs, Platten und Kassetten - dann aber oftmals nicht in den Schmelzöfen, sondern wurden ab Mitte der 90er von Sammlern und Händlern illegal aus den Containern gefischt und dann zum Kilopreis auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft.
Konnte man diese „Dakous“ denn noch anhören?
Ja, meistens ging das, denn besonders auf dem Boden der Container war die Ware unversehrt. Verknappt war das Angebot aber trotzdem, denn manchmal hatten die Schiffe nur ein einziges Genre geladen. Oder es waren plötzlich alle Regale voll mit ein-und demselben Album.
Ein schöner Nebeneffekt war jedoch, dass Platten die bei uns höchstens One-Hit-Wonder waren oder zum schwachen Spätwerk einer Band zählen, in Chinas Underground heute als Klassiker gelten. „Dakous“ waren also ein Schlupfloch, um Musik ganz ohne Lizenz ins Land zu bringen. Das hat ab Mitte der 90er-Jahre die alternative Musik in China schlagartig diversifiziert, was auch für viele Musiker sehr wichtig war, um eine eigene musikalische Identität zu entwickeln.
Sie sprachen auch mit einem Plattensammler, der in den 70er Jahren seine Sammlung vor den roten Garden verstecken musste. Was hat er von dieser Zeit erzählt?
Ich habe Herrn Gu, der heute 72 ist, bei einem Vortrag in Shanghai kennengelernt. Er saß im Publikum, hat aber selbst die tollsten Geschichten aus der Kulturrevolution erzählt. Damals zwischen 1966 und 1976 konnte man in China große Probleme bekommen, wenn man westliche Platten besaß, das galt als konterrevolutionär, als Verrat an der Arbeiterklasse. Viele haben ihre Platten verbrannt oder vergraben. Und auch viele westlich ausgebildete Musiker wurden so sehr verleumdet und verfolgt, dass sie Selbstmord begingen. Alleine am Shanghaier Konservatorium waren es in den ersten drei Monaten der Kulturrevolution 18 Musiklehrer, die sich das Leben nahmen.
Hat Herr Gu selbst Probleme bekommen?
Herr Gu, damals um die 20, arbeitete bei der „China Record Group“, die in der Volksrepublik unter Mao eine ähnliche Monopolstellung hatte wie die Amiga in der DDR. Man produzierte hauptsächlich Revolutionslieder oder die ideologischen Modellopern von Maos Frau Jiang Qing. Herr Gu hatte er dort Zugang zum Radio-Medienraum. In den Archiven lagen dort noch Klassik-und Jazz-Alben aus der relativ freien Republik-Zeit vor 1949. Und von denen ließ Gu einige mitgehen, weil er dachte, es würde eh nicht auffallen. Zuhause hat er sie dann auf Bänder überspielt und zusammen mit Freunden gehört, allerdings nur ganz leise bei geschlossenen Fenstern. Eines Tages hat man ihn dann doch erwischt und öffentlich als „Kapitalist“ gebrandmarkt. Erst Ende der 80er habe er wieder ohne Angst zuhause Musik hören können, hat er mir erzählt.