Folco Terzani ist von Los Angeles nach Orsigna zurück gezogen. Hier in den Bergen des Apennin ist die Stille greifbar, man begegnet selten Menschen. Nur manchmal, erzählt Folco, kommen Jünger seines Vaters und schleichen um das Haus. Sie wollen sehen, wo der von ihnen verehrte Tiziano Terzani gestorben ist. Oft tragen sie "Das Ende ist mein Anfang" bei sich, jenes Buch, dass Folco zusammen mit seinem Vater im Frühjahr 2004 fertig gestellt hat.
Folco war damals 34 Jahre alt, sein Vater 65 und unheilbar an Krebs erkrankt. Ihm blieben nur noch wenige Wochen, und er wollte im Gespräch mit dem Sohn sein Leben rekapitulieren.
Der postum veröffentlichte Dialog wurde zum Ausnahmeerfolg. Selbst kühle Rationalisten ließen sich von Tiziano Terzanis Botschaften rühren: Du kannst "dein Leben erfinden", der Tod ist nichts, was du fürchten musst. Wenn ein seriöser Journalist wie er, der 30 Jahre lang als Korrespondent für den "Spiegel" aus Asien berichtet hatte, plötzlich verkündete, dass die Politik keine Antworten mehr liefert, und stattdessen Religion und Spiritualität gefragt sind, war ja vielleicht doch etwas dran. Besonders in Italien wurde Terzani zu einer Art Guru. Plätze und Parks tragen dort heute seinen Namen. Im Sommer fand zum zehnten Todestag in Florenz eine Konzert-Gala statt, eine Auswahl seiner Tagebücher erschien. Folco sagt, sein Vater sei heute populärer denn je.
Folco ist durch das Vater-und-Sohn-Buch so berühmt geworden, dass man ihn auf der Straße erkennt. Dabei hatten Vater und Sohn nie viel gemeinsam. Auf der einen Seite der zaghafte junge Mann, der von sich sagt, dass er "viele Talente hat, aber in nichts richtig gut ist", und auf der anderen der selbstgewisse Journalist, der das Leben anpackt. "Man konnte mit meinem Vater nur über bedeutende Dinge reden. Manchmal musste man sagen, Mann, gib mir eine Pause, ich habe auch noch eigene Gedanken, die mich beschäftigen". Folco lacht. Der starke Vater hat sein Leben lange bestimmt. Er hat ihm die Welt gezeigt. Ob der Sohn wollte oder nicht: "Wenn er sich etwas vornahm, tat er es. Da gab es keine Diskussionen".
1980 erfüllt sich Tizianos großer Wunsch, als Korrespondent nach China zu gehen. Seine Familie nimmt er mit. Es ist eine kritische Zeit: Das Reich der Mitte hat gerade erst begonnen, sich nach Maos Tod misstrauisch der Welt zu öffnen. Tiziano ist, wie viele seiner Generation fasziniert vom kommunistischen Experiment und will sehen, ob die Kulturrevolution wirklich einen "neuen Menschen" hervorgebracht hat. In einem Idealismus, den Folco nicht versteht, steckt Tiziano ihn und seine Schwester auf eine chinesische Schule. Folco lernt, wie man marschiert und seine Mitschüler bespitzelt. "Es waren die drei unglücklichsten Jahre meines Lebens. Im Nachhinein waren es aber auch die Wichtigsten. China öffnete meinen Horizont für die Welt".
In Japan, der nächsten Station von Tizianos Journalistenkarriere, trennen sich die Wege von Vater und Sohn. Der 16-Jährige kehrt zurück nach Europa und macht Abitur. Er studiert, erst Philosophie und Literatur in Cambridge, dann Film in New York. Er ist ein guter Student, doch er sieht nicht, worauf das alles hinauslaufen soll. "Ich hatte bei Vorstellungsgesprächen immer Angst, den Job zu bekommen. Weil ich wusste, dass ich ihn wahrscheinlich für Jahre einfach machen würde". Wo das Leben des Vaters in dessen Erzählungen immer einem willentlichen, schicksalhaften Plan zu folgen scheint, gibt Folco zu, dass er lange keine Ahnung hatte, was er mit sich anstellen soll. Während seine Kommilitonen Unternehmen und Familien gründen, liegt er auf dem Bett und fühlt sich immer schlechter. Es ist eine üble Kombination: Er ist 27, fühlt sich als Verlierer und weiß nicht, was es eigentlich zu gewinnen geben soll. Sein Vater reist in der Zeit der Krise nach Kalkutta und schreibt für den "Spiegel" einen Artikel über das Hospiz von Mutter Teresa. Es ist etwas in seinen Worten, das Folco aufhorchen lässt. "Ich wunderte mich, wie beeindruckt er von ihr war. Mein Vater war eigentlich nie von jemandem beeindruckt. Ich spürte instinktiv, dass Kalkutta der Ort war, an den ich gehen musste". Und tatsächlich: Das Elend in Mutter Teresas riesigem Krankenlager reißt ihn aus der Leere. "Ich wusch die Sterbenden und saß bei ihnen, wenn sie ihren letzten Atemzug machten. Es stimmt, was die Inder sagen: Der Tod ist der größte Guru."
In Kalkutta beginnt für Folco eine spirirituelle Reise, die sein Vater in dieser Konsequenz erst viel später unternimmt. Und er weiß endlich, was er mit seinem Leben anfangen möchte: Dokumentarfilme über die hinduistischen Sadhu-Asketen drehen. Die bunt bemalten Bettelmönche hatten ihn schon als Kind fasziniert. "Wir waren mit meinem Vater in Delhi, es war laut und dreckig, Leprakranke stießen sich auf blutigen Armstümpfen durch die Straßen. Auf einem Platz sah ich drei Männer, die praktisch nackt waren. Ihr langes Haar türmte sich in riesigen Knoten auf den Köpfen. Es war erstaunlich. Sie besaßen noch weniger als all die anderen Bettler, aber sie wirkten unter ihnen wie Könige". Folco fühlt sich angezogen von diesen heiligen Individualisten, die mit ihrer nomadenhaften Lebensweise das Wort Sinnsuche so wörtlich verkörpern. Einige haben in ihrer hingebungsvollen Askese wie nebenbei Weltrekorde aufgestellt. Einer soll sich 17 Jahre lang nicht hingelegt haben, ein anderer hielt seinen Arm angeblich 25 Jahre über dem Kopf. Ein Mann wie Tiziano hätte sich vielleicht zwei Wochen ohne Kompromisse unter die Sadhus gemischt. Folco ist zögerlicher, sein Interesse aber auch existentieller als in der Spanne eines Zeitungsartikels ausgedrückt werden kann. Er reist durch Indien, umkreist die Sadhus, und bleibt dabei dennoch lange der "Cambridge Boy", der sich hinter Kamera und Beobachterposition versteckt. "Es war ganz klar meine persönliche Reise, aber ich musste alles immer noch irgendwie mit einer gesellschaftlich akzeptierten Aktivität wie dem Filmen rechtfertigen". Anah Baba wird sein Fixpunkt, ein Sadhu "von genau meinem Alter". Was ihn bei seinem Vater oft verrückt macht, bewundert er an ihm. "Wenn Anah Baba entschied, etwas zu tun, tat er es einfach. Das liebte ich."
Zusammen brechen sie in den Himalaya auf, eine spontane Reise. Vier weitere Sadhus schließen sich an. Einer trägt nur alte Hausschuhe, Anah Baba geht barfuß, Folco läuft in Stiefeln. Sie klettern, immer höher bis der dünne Regen zu Schnee wird. Es wird eine Höhle auftauchen, sagt Anah Baba, wenn sie nur darauf vertrauen. Doch es kommt keine. Folco fühlt Unruhe in sich aufsteigen, und was noch schlimmer ist: Er spürt die Unruhe seiner Begleiter. In der Ferne ertönt Donner, langsam wird es Nacht, und er merkt, wie die Sadhus immer schneller gehen. Nach Stunden entdecken sie auf einer Anhöhe einen verlassenen Stall. Es ist zu kalt um zu schlafen, sie drängen sich zusammen, rezitieren Mantras, bis der Morgen graut. "Als der große Feuerball über den Bergspitzen erschien, fühlte ich eine so tiefe, umfassende Dankbarkeit, wie ich sie noch nie gespürt habe. Bei den Sadhus habe ich die Göttlichkeit der Natur wiederentdeckt." Folco lebt mal länger, mal kürzer unter den Sadhus. Einer von ihnen wird er jedoch nie. Er geht nach Los Angeles, wo er versucht, als Filmemacher Fuß zu fassen. Er gründet eine Familie, wird Vater. Einmal pro Jahr kehrt er nach Indien zurück. "Als mein Vater in die Berge ging, hatte er sein Leben gelebt, wir Kinder waren erwachsen. Er konnte für immer verschwinden." Als Tiziano seinen Sohn darum bittet, für ein letztes Gespräch nach Orsigna zu kommen, haben beide tatsächlich eine ähnliche Reise hinter sich.
Tiziano hatte nach der Krebsdiagnose in Indien nach einem Heilmittel gesucht und schließlich die Meditation für sich entdeckt. Wie Folco identifizierte er sich mit den hinduistischen Asketen. Er nannte sich Anam, "der Namenlose" und meditierte in mehreren Ashrams, bevor er sich, bereits mit fortgeschrittenem Magenkrebs, in eine Hütte auf den Himalaya zurückzog. In Orsigna, "seinem toskanischen Himalaya" begegnen sich Vater und Sohn, die so unterschiedlichen Charaktere, zum ersten Mal auf Augenhöhe. Tiziano sagt zu Folco: "Wenn ich mich frage, was ich für dich erträumt habe, ist die Antwort ganz einfach: Ich wollte vor allem, dass du frei bist."
Die Freiheit, nicht mehr viel arbeiten zu müssen, verdankt der Sohn auch den Einnahmen aus dem Vermächtnis des Vaters. Die Karriere als Filmemacher hat er aufgegeben. Er hat nur ein weiteres Buch veröffentlicht, es handelt vom Italiener Baba Cesare, einem Sadhu, den er in Indien getroffen hat und der mit ihm nach Italien zurückgekehrt ist. Wieder eine Geschichte, in der ein alter Mann von seinem Leben erzählt.
Folco ist jetzt 45. Ein Mann, der sein Leben neu erfunden hat. "Orsigna ist genau dort, wo ich jetzt sein möchte. Hier bin ich glücklich, wenn ich einfach der Natur lauschen kann." Seine Familie hat er mit in die Berge genommen. Die Kinder lieben das Leben hier. Noch sind sie zu klein, um die Entscheidungen ihres Vaters in Frage zu stellen.
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