Der Tigerkäfig ist verschlossen. Eine große schwarze Wand nimmt den zahlreichen Zuschauern und Kameras die Sicht auf die vier Tiger und die Arena, in der sich Flüchtlinge den Raubtieren zum Fraß vorwerfen wollten. Eine provokante Kunstaktion des Zentrums für politische Schönheit endete am Dienstag in Berlin unblutig.
Es ist eine fragwürdige Spannungsdramaturgie, die die Künstlergruppe in den vergangenen zwei Wochen aufgebaut hat. Der Höhepunkt vor dem Maxim-Gorki-Theater wurde mit langem Atem und todernster Inszenierung vorbereitet. Mit seinem Happening ging es dem Zentrum für politische Schönheit konkret um eine EU-Richtlinie, die es Beförderungsunternehmen verbietet, Personen ohne Einreiseerlaubnis zu transportieren.
In den Augen der Künstler ist es diese EU-Richtlinie, die Flüchtlinge dazu zwingt, sich von Schleusern unter lebensgefährlichen Bedingungen über die Grenze transportieren zu lassen. Für Teil eins seiner Aktion wollte das ZPS den ersten Flug mit 100 Flüchtlingen von der Türkei nach Berlin gleich selbst organisieren.
Erwartungsgemäß ließen sich die Behörden nicht auf das Spiel der Gruppe ein, das Innenministerium hielt sich an die gesetzlichen Bestimmungen. Am Montagabend spielte dann auch Air Berlin nicht mehr mit: Die Fluggesellschaft stornierte den Flug nach Antalya, da man laut Fluglinie über wesentliche Aspekte im Unklaren gelassen worden sei.
Das Ziel, die Flüchtlinge mit dem Flugzeug "Joachim 1" nach Deutschland zu bringen, das machte Philipp Ruch vom ZPS am Dienstagabend deutlich, sei sehr ernst verfolgt worden. Ruch geht davon aus, dass die Bundesregierung gegenüber Air Berlin darauf gedrängt habe, den Flug abzusagen. Das ZPS will nun die Bundesregierung verklagen.
Es folgte Teil zwei der Aktion "Flüchtlinge fressen". Die Aktionskünstler hatten angekündigt, sollte die Politik das Gesetz nicht abschaffen oder zumindest eine Ausnahmegenehmigung für den Flug erteilen, würden sich mehrere syrische Flüchtlinge mitten in Berlin vor den Augen der Öffentlichkeit von Tigern zerfleischen lassen. Seit Tagen schon stand der Käfig in Berlin-Mitte.
Publikumswirksam wurden die Tiere gefüttert, es gab Podiumsdiskussionen. Das Zentrum für politische Schönheit betont zwar, man habe keine Kausalität herstellen wollen zwischen dem Versuch, Flüchtlinge per Flugzeug nach Deutschland zu holen und der Ankündigung, Geflüchtete wollten sich zerfleischen lassen. Dennoch zählte eine Digitalanzeige die Tage, Stunden und Minuten bis zur vermeintlichen Menschenfütterung herunter. Am Dienstag war es soweit.
Etwa 200 Menschen standen vor dem Käfig, Pressevertreter richteten Stative und Kameras aus. Aber als der Countdown heruntergezählt hatte, gab es nichts zu sehen. Das römische Spektakel fiel glücklicherweise aus.
Eine Lautsprecheransage bat das Publikum vor das Theater, wo die syrische Schauspielerin May Skaf vor die Menge trat. Sie ist eine der Geflüchteten, die zuvor angekündigt hatte, in den Tigerkäfig zu gehen. Stattdessen verlas sie nun einen "Brief der Tiger an die menschliche Bevölkerung".
"In euren Augen sahen wir Angst. Angst vor uns und vielleicht auch vor euch selbst", sagt Skaf stellvertretend für die Tiger, die den Menschen nun den Spiegel vorhalten sollen. "Ihr habt Mitleid mit uns, aber euren Schwestern und Brüdern versagt ihr den Schutz?" Und: "Ihr habt euch von uns entfernt, um besser zu sein. Aber ihr handelt nicht wie Tiere. Wir töten nur, um uns zu ernähren."
Die grenzwertige Aktion des Zentrums für politische Schönheit reiht sich ein in eine Liste von Happenings, mit denen es die Flüchtlingspolitik der EU sowie Deutschlands hart kritisiert. Ausgeschaufelte Gräber im Berliner Regierungsviertel, eine inszenierte Beerdigung auf einem Berliner Friedhof, die gestohlenen Kreuze zum Andenken an die Mauertoten in Berlin. Flüchtlinge den Tigern zum Fraß vorwerfen - das sollte nun die nächste Eskalationsstufe sein.
Dem ZPS geht es um Grenzen. Die Grenzen Europas, die Grenze zwischen Fiktion und Realität, zwischen Kunst und Aktivismus, und nicht zuletzt die Grenze zur Geschmacklosigkeit. Vor allem Letztere hat bei "Flüchtlinge Fressen" gelitten. Reicht eine kluge Rede, um diese Aufmerksamkeitserzeugung auf dem Rücken von Flüchtlingen zu rechtfertigen? Wurden zuvor nicht bereits zu viele Grenzen überschritten?
Aufmerksamkeit ist in der heutigen Zeit ein flüchtiges Gut. Die Aufmerksamkeit, die das ZPS mit "Flüchtlinge Fressen" auf sich gezogen hat, war sehr groß. Und dem ZPS zu keinem Moment groß genug. Auch nach Skafs Rede, im Zentrums-Salon im Garten des Maxim-Gorki-Theater, kokettierten die Gesprächspartner noch mit einem potenziellen Gang in den gefährlichen Käfig.
Aus dieser Aufmerksamkeit wird in den nächsten Wochen und Monaten Erinnerung - an die kritisierte EU-Richtlinie, an die vier Tiger, an ein angekündigtes Blutbad, an die fundamentale Kritik im "Brief der Tiger". Und nicht zuletzt an die Veranstalter selbst. An wen oder was wird man sich nun am meisten erinnern?
Original