Die Brandsohle ist die Seele. Sie liegt im Inneren, direkt unter dem Fuß. An ihr werden die wichtigsten Teile eines Schuhs befestigt. Sie ist das Element, das alles zusammenhält.
Bei Dirk Kohlke sind es die Schuhe, die alles zusammenhalten.
Wer die Tür zu seiner Werkstatt öffnet, wird von dem gewaltigen Wummern einer Schleifmaschine empfangen. Es ist ein großer Raum, vollgestopft mit alten Maschinen, Garnen, Lederfetzen und Schuhen, die eine Generalüberholung brauchen. Hier baut Kohlke Maßschuhe nach alter Tradition. In Berlin und Brandenburg macht das nur noch eine Handvoll der Innungs-Betriebe.
Die Werkstatt, das geordnete Chaos - und der Beginn einer Zeitreise. "Mein Liebchen, was kann ich für Dich tun?", fragt Kohlke. Liebchen ist Stammkundin. Sie hat gleich vier Paar Schuhe mitgebracht, Sohlen und Absätze sollen ausgebessert werden. Es ist ein Routine-Gespräch, mehr Mimik als Worte, schnelles Nicken, Fingerzeig auf die Problemstellen. Ein paar Tage dauere das, sagt Kohlke. Doch das weiß die Dame.
Kohlke ist ein Handwerker und bodenständiger Ladenbesitzer, wie man ihn sich vorstellt. Ein stämmiger und ernster Mann mit zupackenden Händen, die schon bei der Begrüßung deutlich machen, dass man sich auf seinen Handschlag verlassen kann. In seinem Gesicht spiegeln sich ein paar Jahre mehr wider als die 51, die er erlebt hat. Die grauen Haare hat er locker nach hinten gekämmt. Über dem Pullover trägt er eine ärmellose Weste und eine Schürze, dazu ausgetretene Winterstiefel.
Die Jahrzehnte sind nicht spurlos vorbeigegangen. "Wenn man so nett ist wie ich, bekommt man auch schon einmal auf die Fresse", sagt der Meister. Er wirkt ehrlich, die Aussage auch. Das Gefühl, ausgenutzt zu werden, ist ihm nicht fremd. Doch Kohlke hat früh seine Berufung erkannt und ist ihr treu geblieben. Es ist, als hätte er im Handwerk der alten Schuhmacher das große Glück gefunden.
Seit 30 Jahren betreibt er die Schuhwerkstatt und ein Geschäft in Berlin-Zehlendorf. "Mein Großvater hat den Laden 1929 gegründet, damals noch in Reinickendorf", erzählt der Berliner. Er zeigt auf ein verblichenes Schwarzweiß-Foto, das in der Werkstatt zwischen Dutzenden Auszeichnungen und Meisterbriefen hängt. Die Mauer habe dafür gesorgt, dass sich der Standort nicht mehr rentierte. 1964 zog "Grimm's Schuhe" nach Zehlendorf. Bis heute werden hier Maßschuhe gebaut, mindestens zwölf Paar im Jahr, meist aber eher zwanzig.
Die Füße der Käufer werden für die Anfertigung per Abdruck vermessen, ein individueller Leisten als Abbild des Fußes im gewünschten Schuhdesign erstellt, anschließend ein Rohling aus durchsichtigem Plastik. "Der Kunde kommt dann noch einmal zur Anprobe, damit hinterher auch wirklich alles passt", sagt Kohlke.
Mehrere Regalböden voller Leder im hinteren Teil der Werkstatt zeugen von der Vielfalt, die der Schuhmacher den Kunden bieten kann. Froschleder, Känguru, Zebra, Strauß, Haifisch - ein individueller Schuh ist das Ergebnis in jedem Fall. Dazu schwer und ausgestattet mit fester Sohle - der absolute Gegensatz zum federleichten Sportschuh.
Doch genau das zieht den 51-Jährigen an: altes Design mit einem Hauch von Nostalgie, nicht nur bei den Schuhen. Auch die alten Meister- und Gesellenbriefe, Dokumente des Großvaters, gefallen ihm besser als die eigene Auszeichnung. Als der Großvater starb, war Kohlke 18 und gerade Geselle geworden. Um das Geschäft zu übernehmen, brauchte er einen Meistertitel. Mit 21 war er dann einer der jüngsten Schuhmacher-Meister in Europa, wie er selbst sagt.
Oft hat sich Kohlke an die Sprüche des Opas gehalten, manchmal auch nicht. Dann ging es meistens schief. Nur manchmal wird eine sentimentale Seite sichtbar. Dann legt er Pausen ein, sammelt sich - und erzählt. Von einem Freund, der ihn abgezockt hat. Von seiner Ehe, die in die Brüche ging. Von seiner Tochter, die der Mutter folgte und keine Schuhmacherin wurde. Von einem ehemaligen Lehrling, der wie ein Sohn für ihn war und dem er gerne den Laden irgendwann übergeben hätte. Der dann aber nach Köln ging, seinem Meister und dem Schuhmacher-Handwerk den Rücken kehrte. "Dem haben wir sogar ein Bett in der Werkstatt aufgestellt, damit er sich hier mit seiner ersten Freundin treffen konnte." Er schluckt.
Lehrlinge lernen bei ihm auch heute noch, wie man einen Schuh mit Schweineborsten zusammennäht oder aus Garn einen Faden dreht. "Wenn es mal einen großen Stromausfall gibt, können unsere Lehrlinge immer noch Schuhe bauen." Gearbeitet wird mit Maschinen, die deutlich älter sind als der Chef. Jedes der handgefertigten Paare wird präsentiert wie ein kleines Kunstwerk, auch wenn sich der 51-Jährige nicht als Künstler bezeichnen möchte.
Er weiß, was ihn glücklich macht: "Es ist dieses Geräusch, wenn der Fuß in den fertigen Schuh gleitet und die Luft verdrängt. Pffft. Dann passt's."
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