1 subscription and 0 subscribers
Article

Am Boden

Billigairlines verscherbeln ihre Tickets, um sich gegen die Corona-Krise zu stemmen. Langfristig aber dürften die Preise steigen, vor allem für Langstreckenflüge.


Schnöde Zahlen entscheiden, ob der Tag von Stefan Baumert ein guter wird oder ein schlechter. Seit Monaten geht das schon so: Baumert betritt in der Früh sein Büro und schaut auf Tabellen mit Neuinfizierten, Inzidenzen, R-Werten. Schwanken die Zahlen? Überschreiten sie Grenzwerte oder schlüpfen sie gerade noch darunter hindurch? Er will dabei vor allem eines wissen: Wohin dürfen sie überhaupt noch? Sie, seine Kunden.

Gerade gibt es vor allem schlechte Tage im Berufsleben von Stefan Baumert. Baumert ist Geschäftsführer Touristik der TUI Deutschland GmbH, des größten Reiseveranstalters im deutschsprachigen Raum. Die ganze Branche muss gerade um ihr Fortbestehen kämpfen. Denn ohne offene Grenzen keine Reisen. Und ohne Gäste, die in die Welt gebracht werden wollen: keine Flüge. Die Luftfahrtbranche ist am Boden.

Die internationale Luftverkehrsvereinigung IATA schätzt die weltweiten Umsatzeinbußen der Airlines für das Jahr 2020 auf 356 Milliarden Euro. Das Verkehrsaufkommen wird laut IATA 66 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres liegen. Im nun anstehenden Winter werden die Airlines der Lufthansa-Gruppe maximal ein Viertel ihrer Vorjahreskapazität anbieten, die Zahl der Fluggäste wird voraussichtlich bei weniger als einem Fünftel liegen.

Überall auf der Welt benötigen die Fluggesellschaften Staatshilfen, um nicht Konkurs anmelden zu müssen, allein die neun Milliarden Euro. Die deutsche Airline sei fest entschlossen, "mindestens 100.000 der heute 130.000 Arbeitsplätze der Lufthansa Group zu erhalten", so steht es in einem Brief an die Mitarbeiterinnen. Oder anders formuliert: 30.000 Angestellte müssen um ihren Job fürchten. Bei Stefan Baumerts Konzern TUI sind es 8.000. Die Fluggesellschaften Nordamerikas haben die Streichung von insgesamt rund 100.000 Arbeitsplätzen angekündigt.

"Der Branche geht es schlecht. Sehr schlecht", sagt Roland Conrady, Professor für Touristik und Verkehrswesen an der Hochschule Worms. Wegen der dramatisch gesunkenen Nachfrage wurden viele Flugzeuge an den Flughäfen geparkt, sie müssen aber weiterhin gewartet, die dazugehörige Crew und das Bodenpersonal bezahlt werden. Einige Airlines, darunter die Lufthansa, hatten angekündigt, ihre Flotten zu reduzieren. Die großen A380-Modelle wurden sogar allesamt stillgelegt, an ausgebuchte Interkontinentalflüge ist derzeit nicht zu denken.

Dabei hatte die Luftfahrt schon vor Beginn der Corona-Krise ein grundlegendes Problem: die hochkompetitive Preispolitik. "Die Branche arbeitet mit Preisen, die häufig nicht einmal die Existenz sichern können", sagt Conrady. Low-cost carrier wie oder EasyJet setzen mit ihren immer niedrigeren Ticketpreisen die Konkurrenz unter Druck: Lufthansa, British Airways oder Air France-KLM, sogenannte network carrier, die von ihren Drehkreuzen ein festes Streckennetz anbieten. Sie konnten kaum kostendeckend arbeiten, weshalb ihre Liquiditätsquoten schon vor der Pandemie schwach waren. Hinzu kommen die hohen Personalkosten, die bei den low-cost carriern nicht anfallen, weil deren Angestellte weniger verdienen. Die Gesamtkosten der network carrier seien in etwa doppelt so hoch, deshalb auch die im Schnitt doppelt so hohen Ticketpreise, erklärt Conrady.

Laut einer Studie der IATA reiche die Liquidität vieler Airlines für gerade einmal zwei bis drei Monate. "Das ist erschreckend", sagt Conrady. "Die gesamte Luftverkehrsbranche dieser Welt hat seit Anbeginn ihres Bestehens, seit etwa 100 Jahren, kumulativ kaum Gewinne gemacht. Das muss man sich mal vorstellen."

Original