Im Grossraum Seoul sterben viele vor allem ältere Menschen, ohne dass sie danach jemand vermisst. Park Jin Ok hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihnen einen würdevollen Abschied zu bereiten.
Im Stadtkrematorium von Seoul ist der Tod ein hochoptimiertes Ereignis. Dicht gedrängt schieben sich schwarzgekleidete Trauerzüge durch den Eingang des sterilen Baus, die Personen an der Spitze tragen Fotoporträts der Verstorbenen vor sich her, dann folgen die sperrigen Holzsärge. In das Schluchzen der Angehörigen mischen sich die Lautsprecherdurchsagen einer Computerstimme. Die zwölf Krematoriumsöfen im Erdgeschoss sind voll ausgelastet, die Aufbahrungshallen im zweiten Stock werden stundenweise vermietet.
Fremde TrauergästeIn einem der Zimmer richtet Park Jin Ok mit geradezu blinder Präzision einen Traueraltar her. Mit weissen Baumwollhandschuhen legt der 44-Jährige ein Obstgesteck aus Datteln, Äpfeln und Birnen nieder, daneben weisse Plasticchrysanthemen. Dann giesst er einen Schuss Reisschnaps in ein Glas. Nach einer Schweigeminute setzt er zu einer Grabrede an. Auf den Sitzreihen hinter ihm lauschen sein 23-jähriger Praktikant, eine Frau der Bezirksverwaltung und eine buddhistische Nonne in grauem Gewand. Zu viert erweisen sie Kang Cheol In die letzte Ehre - einem Mann, dem sie nie zuvor begegnet sind.
Nun thront sein Konterfei, aufgenommen in den letzten Monaten vor seinem Tod, auf dem Traueraltar. Das angedeutete Lächeln wirkt angestrengt. Als Kang Cheol In allein in seiner Wohnung verstarb, gab es niemanden, der sich um seine Beerdigung kümmerte. Er war nur ein weiterer Toter ohne Familie, ohne Freunde und ohne Besitz. Ein Fall für Park Jin Ok.
"Unsere Botschaft richtet sich eigentlich an die noch Lebenden. Wir wollen ihnen ein Versprechen geben: Auch wenn ihr bald sterben solltet, werden wir uns um euch kümmern", sagt der Aktivist beim Leichenschmaus in der Keller-Mensa des Krematoriums. Serviert wird Yookgaejang, eine scharfe Kräutersuppe, deren feuriges Rot laut einem schamanistischen Glauben die Seelen der Verstorbenen vor bösen Geistern schützen soll. Ein weiterer, tief verwurzelter Glaube aus der koreanischen Folklore lautet: Nur wenn die Toten rituell beerdigt werden, können sie ewigen Frieden finden.
Park und sein mobiles Bestattungsteam nehmen diesen Handlungsauftrag ernst. Noch während des Essens gehen sie die Beerdigungen für den Rest der Woche durch: Zwei Tote stehen am Mittwochvormittag an, ein weiterer am Freitag. Oft sind es alte Menschen, die scheinbar unbemerkt der Welt entschwinden. Manche Schicksale verfolgen Park Jin Ok jedoch bis in seine Träume: etwa die Mutter, die in den Han-Fluss sprang, ihr Neugeborenes auf den Rücken geschnallt. Am Ende durchlaufen alle Verstorbenen dasselbe rigoros durchgeplante Beerdigungsprotokoll: ein 60-minütiger Abschied vom Diesseits. "Manchmal hoffe ich, dass sich unsere Dienste nicht allzu rasch herumsprechen", sagt Park Jin Ok, lächelnd, aber mit besorgtem Unterton: "Schon jetzt kommen wir kaum mit den Beerdigungen nach."
Vor acht Jahren gründete er die Organisation Good Sharing. Zu jener Zeit wurde erstmals über ein Phänomen berichtet, das die koreanischen Tageszeitungen "einsame Tote" tauften: Immer mehr alte Menschen verstarben unbemerkt von der Aussenwelt, meist in den anonymen Armensiedlungen der Hauptstadt Seoul. Manchmal dauerte es Wochen, bis ihre leblosen Körper aufgefunden wurden, und niemand schien sie zu vermissen. Im konfuzianischen Korea war dies bisher unerhört, kindliche Pietät gilt schliesslich als höchstes Gut. Die Zahl der "einsamen Toten" stieg jedoch seitdem beständig an. 1245 Fälle wurden im Vorjahr vermeldet, doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren. Dabei erfasst die Statistik nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen.
Die grosse AngstWenn es den Bezirksverwaltungen auch nach mehreren Monaten nicht gelingt, Angehörige der Toten ausfindig zu machen, ist Park Jin Oks Organisation am Zug. Gemeinsam mit einem Kollegen sowie einem weitverzweigten Netzwerk aus studentischen Helfern, Sozialarbeitern und Geistlichen halten sie die Beerdigungen ab. Finanziell werden sie dabei von der Stadt Seoul unterstützt, der grösste Teil der Gelder kommt jedoch von privaten Spendern.
Vor einigen Jahren haben es sich Park Jin Ok und sein Team zur Aufgabe gemacht, die einsamen Menschen vor ihrem Ableben aufzuspüren - um ihnen ihre letzte, grosse Angst zu nehmen: keine ordentliche Beerdigung zu erhalten. Seitdem fahren die Aktivisten alle paar Wochen durch die Armensiedlungen Seouls, in dessen Seniorenzentren sich die Dienste von Good Sharing bereits herumgesprochen haben.
Ham Hak Joon hat Park Jin Ok gebeten, sich dereinst um seine Beerdigung zu kümmern. Der 88-Jährige sitzt auf dem Futon in seinem fünf Quadratmeter grossen Zimmer, wo es nicht viel mehr gibt als eine Kleiderstange, einen Reiskocher und einen Ventilator. An der Decke breitet sich Schimmel aus, die Luft ist stickig. Für Gäste hält er Pulverkaffee und Pappbecher bereit.
Meistens ist Herr Ham jedoch allein. Seine Kinder hat er seit mehr als 15 Jahren nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich, sagt der alte Mann, würden sie ihn auf der Strasse nicht wiedererkennen. Dass er nun zumindest seine Beerdigung in sicheren Händen wisse, spende ihm Trost. Im Schnitt kostet das Ritual umgerechnet mehr als dreitausend Franken. Für die Armen des Landes ist dies oft zu viel. Senioren sind in Südkorea besonders oft von Armut betroffen: Rund die Hälfte von ihnen lebt laut der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) unter dem Existenzminimum, so viel wie in keinem anderen OECD-Land.
Der einstige Agrarstaat ist längst zur dreizehntgrössten Volkswirtschaft herangewachsen - die Rentenkassen aber sind immer noch rudimentär entwickelt. Mit ihrem Amtsantritt 2013 versprach Präsidentin Park Geun Hye zwar jedem Südkoreaner über 65 Jahren einen monatlichen Zuschuss von 200 000 Won, umgerechnet 175 Franken. Nach wenigen Monaten ruderte sie allerdings bereits zurück - unter Verweis auf die stagnierende Wirtschaft des Landes.
90 Franken im MonatDabei zählt Südkorea zu den am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt. Noch in den siebziger Jahren gebaren Koreanerinnen im Schnitt über vier Kinder, heute sind es nur 1,23. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft der Jugend, später für die alternden Eltern finanziell aufzukommen. Auch Ham Hak Joon muss mit 90 Franken im Monat alleine zurechtkommen. Sein Mittagessen, die einzige Mahlzeit am Tag, nimmt er in einer Suppenküche zu sich. Sobald sich die schwüle Spätsommerhitze über die Stadt legt, flüchtet er im Morgengrauen aus seinem Zimmer, müht sich die steilen, verwinkelten Gassen der Umgebung hinab, bis er einen klimatisierten U-Bahnhof erreicht. Dort verbringt er seine Tage, sitzend und wartend.
Dabei meinte es das Schicksal einst gut mit ihm. Der gelernte Busfahrer machte sich Mitte der neunziger Jahre selbständig. Mithilfe eines Bankkredits gründete er sein eigenes Unternehmen, kaufte drei Reisebusse und heuerte Fahrer an. Herr Ham wollte am Aufschwung seines Landes teilhaben. Ganz Südkorea versprühte damals ein nie da gewesenes Selbstbewusstsein. Die Olympischen Spiele 1988 in Seoul hatten den Tigerstaat auf die mediale Weltbühne geholt. Die Bevölkerung war stolz auf ihre junge Demokratie. Niemand erwartete, dass der hart erarbeitete Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahrzehnte einmal ein Ende finden würde. Im Sommer 1997 kollabierten die südkoreanischen Finanzmärkte quasi über Nacht, das Land geriet in den Sog der Asienkrise.
Krise der Männlichkeit?Schon bald konnte Ham die benötigten Darlehen nicht mehr aufbringen. Sein Unternehmen ging pleite, wenig später zerbrach auch seine Ehe. Aus Scham darüber, seine Familie finanziell nicht mehr unterstützen zu können, isolierte er sich zusehends. Schliesslich zog er hoch verschuldet in eine Armensiedlung an einem Berghang im Stadtzentrum. Die meisten Nachbarn von Herrn Ham sind ebenfalls über 80 Jahre alt, viel vom Leben erwartet hier niemand mehr. In ein paar Jahren wird die Siedlung abgerissen werden.
"Fast immer sind es Männer, die sich komplett aus ihrem Umfeld zurückziehen", sagt der Aktivist Park Jin Ok. Die "einsamen Toten" seien nicht zuletzt auch Ausdruck einer Krise männlicher Rollenbilder. Gerade ältere Koreaner definierten sich ausschliesslich über ihre wirtschaftliche Stärke; als Überväter, die ihre Familie im Alleingang finanziell versorgten. Wenn sie beruflich scheiterten, dann verlören sie den Boden unter den Füssen. "Diese Scham halten nicht alle aus", sagt Park.
Führerschein als ReliktHam Hak Joon hat sie bis heute nicht verarbeitet. Seine letzte Verbindung zu seinem vorigen Leben hat er in einem Pappkarton verstaut. Er muss lange kramen, ehe er das kleine Kärtchen findet. Voller Stolz hält er es vor die Brust: Es ist sein alter Busführerschein. Ungläubig mustert er die Profilfoto: Sie zeigt einen Mann mit dichtem, schwarzem Haar und zuversichtlichem Blick. Damals sei er die Linie 142 gefahren, eine der längsten Routen, die von den nördlichen Bergen am Stadtrand bis hin zum südlichen Ufer des Han-Flusses führte.
"Schauen Sie", sagt Herr Ham plötzlich, die Stimme freudig erregt: "Die Lizenz ist sogar noch gültig!" Erst in diesem Winter läuft sie ab.
In der koreanischen Kultur nimmt der Ahnenkult einen besonderen Stellenwert ein. So waren koreanische Beerdigungen einst aufwendige, dreitägige Zeremonien. Die Toten wurden in den Häusern der Familien aufgebahrt, während nach und nach die Verwandten und Nachbarn einkehrten, um den Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Bis zum heutigen Tag sind die Abschiedsrituale einer Beerdigung stark vom jahrtausendealten schamanistischen Volksglauben geprägt. Auf einem nach Norden gerichteten Traueraltar werden die Leibgerichte und Getränke des Toten aufgereiht. Seine Leiche liegt in einem Sarg eingebettet auf weissen Chrysanthemen. Die Zahl der Gäste, die der Beerdigung beiwohnen, zeigt die Stellung des Toten in der Gesellschaft. Auf dem Land werden die Menschen heute noch oft in Familiengräbern oder an Berghängen bestattet, in der Stadt eher in Gemeinschaftsgräbern. Mittlerweile lebt fast die Hälfte der 50 Millionen Koreaner im Seouler Ballungsraum, was Auswirkungen auf die jahrhundertealten Traditionen hat. Die meisten der Viertel mit engem sozialem Zusammenhalt wurden durch grosse Stadtentwicklungsprojekte auseinandergerissen. An ihrer Stelle stehen nun anonyme Apartmentkomplexe, deren Bewohner unter allen OECD-Ländern im Schnitt am zweitlängsten arbeiten und damit wenig Zeit für soziale Kontakte ausserhalb der Familie haben.