Ein letzter Hilfeschrei, dann tropfte bereits Mahmouds Blut auf den sandigen Boden Palmyras. Über ihm thronte die Qal' at Ibn Ma'n, eine mamlukische Burg aus dem 13. Jahrhundert. Unter ihm lag Schotter. Sein übermütiger Sprint den Berg hinab endete mit ein paar blutverschmierten Taschentüchern, einem verstauchten Knöchel und einer zur Hälfte geleerten Flasche Arak, einem Anisschnaps.
Der Touristenführer und der Sprachschüler: Es war die klassische Konstellation syrisch-europäischer Begegnung, die den 21-jährigen Mahmoud und mich im Frühjahr 2004 in Tadmor, wie die Stadt auf Arabisch heißt, zusammengeführt hatte. Palmyra lautete ihr Name in der Antike, und noch heute lassen sich die erhaltenen Ruinen aus dieser Zeit bewundern.
Vor meinen Augen eröffnete sich dieses riesige Freiluftmuseum aus rund 4000 Jahren altarabisch-römischer Patchworkkultur. "Hello, my friend. Special tourist price", begrüßte mich Mahmoud bei unserer ersten Begegnung von seinem Kamel herunter. Lockige Haare, verstaubte Klamotten. Dauergrinsen. Sein Englisch war ein Mix aus dem, was er von den Touristen aus aller Welt aufgeschnappt hatte. Mahmoud, der fast jeden Satz mit einer witzigen Pointe zu beenden versuchte, passte fast perfekt in das Klischee von Touristenguides aus dem Reiseführer. Als ich drei Jahre später wiederkam, wurden wir wirkliche Freunde.
Wasserpfeife statt Ruinen
2007 in Syrien. Das war eine Zeit, als Kulturtouristen das Land entdeckten. Christliche Pilgergruppen schwitzten sich die Treppen des Bergdorfes Maalula hinauf, um die letzten Menschen zu sehen, die noch den aramäischen Dialekt Jesu sprechen. Auf der Kreuzritterburg Krak de Chevalier ließen sich kichernde Mädchen in blau-weißen Schuluniformen von europäischen Touristen fotografieren. Acht Jahre ist es her, als jeder Reiseführer betonte, dass Syrien mit seinen 17 Konfessionen als Prototyp des friedlichen Zusammenlebens gelte. Genau wie Palmyra.
"Das ist der Baaltempel, dort ist der römische Säulengang, willst du auch noch das Tetrapylon sehen?" Als Mahmoud mich durch die Ruinen der Stadt führte, schien seine Faszination für das Weltkulturerbe gering zu sein. Mahmoud rauchte stattdessen wesentlich begeisterter Wasserpfeife im Amphitheater und erzählte, dass er viel lieber in Deutschland Maschinenbau studieren würde, anstatt mit Touristen beladene Kamele an alten Steinen vorbeizutreiben.
Mein syrischer Freund lebte in einer kleinen Wohnung mit anderthalb Zimmern in der Neustadt - zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden sieben und zwölf Jahre alten Schwestern. Auch sie mussten bereits arbeiten gehen. Der Boden wurde mit Matratzen zum Bett oder mit einer abwaschbaren Plastikfolie zum Esstisch umfunktioniert. In einer Ecke wartete orientalischer Nippes darauf, am nächsten Tag gegen die Lira der Touristen eingetauscht zu werden. Nach einer Einladung zum Essen - es gab gefüllte Zucchini und die Süßspeise Baklava - wurde mir klar, dass dafür wahrscheinlich ein Wocheneinkommen der Familie draufgegangen war.
Touristenparadies und Foltergefängnis
So berühmt Mahmouds Heimatstadt bei Touristen war, so berüchtigt war sie bei den Einheimischen. Weniger als einen Kilometer von den Ruinen des einstigen Palmyras entfernt, lag das, was die Syrer "Königreich der Stille" nannten. Zehntausende Menschen verschwanden seit den Siebzigerjahren im Militärgefängnis der Stadt. "Tadmor scheint dazu entworfen worden zu sein, seinen Insassen das Maximum an Leid, Erniedrigung und Angst zufügen zu können", urteilte Amnesty International über die Folterstätte. Waren die antiken Säulen Syriens Symbol für seine kulturell vielfältige Geschichte, stand das Gefängnis für die politisch düstere Gegenwart unter dem Diktator Baschar al-Assad.
"Willkommen in Syrien, der Heimat der Gastfreundschaft" stand damals auf überall im Land auf Werbeschildern. "Ich mach alles für dich, nur lass uns nicht über Bashar reden", hieß es hinter vorgehaltener Hand. Einmal taten Mahmoud und ich es dennoch. Weit entfernt von der Stadt und möglichen Zuhörern erzählte er mir unterhalb der mamlukischen Burg von der kollektiven Angst vor dem Regime und der Allgegenwart des Geheimdienstes: "Natürlich kenne ich Leute, die verschwunden sind. Jeder kennt die", sagte er. Und dennoch habe es nach dem Amtsantritt von Bashar al-Assad im Jahr 2000 für eine kurze Zeit den festen Glauben daran gegeben, dass "wir ein ganz normales Leben werden führen können", meinte Mahmoud.
2001 wurde das Foltergefängnis in Tadmor überraschend geschlossen. In Reden versprach der neue Präsident ein Ende des seit 40 Jahren in Syrien andauernden Ausnahmezustandes.
Als ich Mahmoud 2007 wieder traf, hatten er und die meisten anderen Syrer den Glauben an politische Reformen längst wieder verloren. Statt freier Wahlen sorgte Assad für Mobiltelefone und Satellitenfernsehen. In orientalisch verwinkelten Gassen eröffneten Internetcafés. Händler schraubten blinkende Werbetafeln an ihre jahrhundertealten Geschäfte. Statt Demokratie und Freiheit kamen Neonreklame und Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Land im Chaos
Die deutsche Entwicklungshilfeministerin reiste nach Damaskus, um Syrien laut dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit "zum Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit" zu machen. Bis zu 44 Millionen Euro investierte die Bundesrepublik jährlich in Ausgrabungsprojekte, Wasserversorgung und Tourismusförderung. Mehr als jeder zehnte Syrer arbeitete damals wie Mahmoud in der Tourismusbranche.
Zwischen einem amerikanisch besetzten Irak, einem zerfallenden Libanon und dem immer wieder eskalierenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern galt Syrien als "Stabilitätsanker". Und als vielversprechender Markt. Investoren vom Golf eröffneten Hotels in den Altstädten von Damaskus und Aleppo. Mit türkischem Geld entstanden Industrieparks. Und in syrischen Ministerien trimmten deutsche Berater das Land auf Marktwirtschaft.
Unterdessen stiegen im liberalisierten Syrien erst die Preise für Strom, Wasser und Nahrungsmittel, darauf schließlich Armut und Arbeitslosigkeit. Als vier Jahre später auch vor den Ruinen Palmyras Menschen auf die Straße gingen, machten selbst die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit "wachsenden Konkurrenzdruck und eine rapide steigende Armutsquote" dafür mitverantwortlich.
Als ich Mahmoud 2012 zum letzten Mal traf, hatte er gerade sein Kamel verkauft. Kein Tourist verirrte sich im Bürgerkriegsland Syrien noch nach Palmyra. Bei unserer letzten Wasserpfeife erzählt er mir, dass er überlege, sich der Freien Syrischen Armee im Kampf gegen das Assad-Regime anzuschließen. Später tat er es auch.
Tod in Palmyra
Nach und nach bedrohte der Krieg die Wahrzeichen der einst boomenden syrischen Tourismusindustrie. Im Oktober 2013 eroberte der dortige Qaida-Ableger, die Nusra-Front, das christliche Dorf Maalula. Mörserbeschuss zerstörte die Ummayyaden-Moschee von Aleppo. Die Kreuzritterburg Krak des Chevaliers steht noch. Sie dient allerdings heute der syrischen Armee als Festung.
Auf der mamlukischen Festung, vor der mein Freund Mahmoud 2007 seinen Schmerz mit Arak wegspülte, weht dagegen heute die schwarze Fahne des "Islamischen Staates". Kämpfer der Terrororganisation eroberten die Stadt im Mai 2015. Zwar sprengten sie Assads 2011 wiedereröffnetes Foltergefängnis, bald begannen die Fanatiker mit ihren eigenen blutigen Hinrichtungen. Nun droht auch den antiken Stätten die Zerstörung.
Mahmoud hat die Eroberung Palmyras nicht mehr erlebt. Anfang 2014 bekam ich eine letzte Nachricht aus der Stadt. "Er ist tot", schrieb mir ein Bekannter auf Skype. Ein Scharfschütze hatte Mahmoud in den Kopf geschossen.
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