Es ist einer der heißesten Tage des Jahres, als dieser Ausländer unerwartet die Straßen irgendeines deutschen Dorf entlang läuft. Nennen wir es Freidorf. Die Haare ungewaschen, die Hose voller Staub, das T-Shirt verschwitzt. Sein Deutsch als holprig zu bezeichnen, wäre beschönigend.
Freidorf ist typisch für diese Region: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, den Landkreis haben die meisten allenfalls einmal verlassen, wenn die Verwandtschaft aus dem Westen zur Goldenen Hochzeit einlud. Einmal in der Woche kommt der Bäcker auf Rädern. Aber ansonsten bleibt man meist unter sich.
Als die ersten Einheimischen neugierig die Vorhänge zur Seite ziehen, haben die Kinder schon ihr Spielzeug in den Straßengraben geworfen. „Ausländer, Ausländer" rufen sie und rennen lachend auf den Fremden zu. Ein kleiner Ronny erreicht ihn als ersten und greift stolz seine Hand. Er wird sie für die nächsten Stunden nicht mehr loslassen. Eine kichernde Mandy wirft Luftküsse. Günther, der Dorfälteste, bietet dem Besucher an, ihn durch die Straßen zu führen.
Am Ende des Tages wurde der Fremde rund achtmal zum Essen, zwanzigmal zum Tee und ein Dutzend Mal auf Facebook eingeladen. Er weiß, dass Ingrid nachts immer wach wird, seitdem sie ihren Mann im Krieg verloren hat. Dass Justins Traum, Maschinenbau zu studieren, am fehlenden Geld scheiterte. Und dass Susi sich nichts mehr wünscht, als endlich ihren Bruder wiederzusehen.
Die Geschichte ist nicht frei erfunden, nur in Deutschland passiert sie wohl nie. Eine Viertelstunde Fußweg vom Zentrum der südtürkischen Stadt Suruç und zwölf Kilometer von Kobane im Norden Syriens entfernt liegt das Dorf, das in Wahrheit ein syrisches Flüchtlingslager ist. Mandy und Ronnie heißen eigentlich Hamudi und Shila. Der verschwitzte Fremde bin ich. Und nicht nur Ingrid hat einen Verwandten im Krieg verloren, sondern jeder einzelne der 300 Bewohner. Wirklich jeder.