Wenn Lawrence Leuschner durch den Park am Gleisdreck in Berlin-Kreuzberg rollt, ist er die Verkehrswende. So sieht er es zumindest. Leuschner lenkt den elektrischen Scooter um Kurven und Bodenwellen, Blinker links, Bremse, dann wieder Vollgas, begleitet von einem hochtönigen Surren.
Niemand hier kennt Leuschner. Aber alle kennen sein Produkt: Den schwarz-grünen Scooter, auf dem er gerade durch den Park saust, hat er auf den Markt gebracht. Leuschner ist Mitgründer und Geschäftsführer von Tier Mobility. Das Unternehmen bietet seit 2018 elektrisch betriebene Scooter per App zum Verleih an, seit Sommer 2019 auch in Deutschland. 65.000 Roller mit dem Logo der Marke sind derzeit in europäischen Städten verfügbar. Der Wert von Tier betrug im November 2020 laut Financial Times knapp eine Milliarde US-Dollar. Ein deutsches auf dem Weg zum Einhorn, wie Firmen mit früher Milliardenbewertung genannt werden. Eine unternehmerische Erfolgsgeschichte.
Doch viele sehen in den E-Scootern von Tier, Lime, Voi und Circ ein unnützes Spielzeug, das Fußwege versperrt, Radfahrenden den Platz streitig macht und in der Produktion viele knappe Ressourcen verbraucht. Leuschner dagegen behauptet, sie könnten einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Erderwärmung zu begrenzen. Wie glaubwürdig ist diese Motivation?
Lawrence Leuschner, 39 Jahre alt, hochgewachsen und schmal, steht fast reglos auf dem Trittbrett des Scooters, der ihn flink durch den Park trägt. Nur seine Augen springen umher. Er spricht schnell, baut viele englische Wörter ein: "Ich wollte ein Impact Business gründen, das einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft und die Umwelt hat." Erzählt er von Tier, greift er oft auf seine Vergangenheit zurück, schafft Verbindungen zwischen früher und heute.
Studium abgebrochen, reBuy gegründetFrüher, das beginnt für Leuschner auf dem Flohmarkt in Hofheim am Taunus. Als Kind verkauft er die Retouren aus dem Warenlager seines Stiefvaters, der mit Kunsthandwerk handelt, bei eBay. Während des Abiturs gründet er mit Freunden trade-a-game, einen Onlinehandel für gebrauchte Videospiele. Sein BWL-Studium in Wiesbaden bricht Leuschner kurz vor dem Abschluss ab. Er habe damals seinen Eltern gesagt: "Ich muss das Geschäftsmodell richtig auf die Füße bringen und aus meiner Komfortzone raus." Mit vier Freunden zieht Leuschner in eine WG in Berlin-Kreuzberg, alle arbeiten sie bei trade-a-game, ihre WG wird zur Firmenzentrale. 2009 ändert das Team den Namen in reBuy und wird bald zum größten Onlinezwischenhändler für gebrauchte Elektronik. Schon damals wurde er häufig interviewt, meist trug er dann ein Hemd und hatte Gel in den Haaren.
Ihm gefalle es, Ideen wachsen zu sehen, Menschen zu motivieren, sagt Leuschner heute. Mit Tier führt er ein Start-up mit mehr als 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in neun Ländern, verantwortet 345 Millionen US-Dollar an Investorengeldern. Seinen Alltag ordne er dem Unternehmen unter, arbeite jede Woche bis zu 70 Stunden, sagt Leuschner. Zum Arbeiten hört er am liebsten den DJ Jan Blomqvist, 120 Beats pro Minute. Seine größte Schwäche? Ungeduld, sagt Leuschner.
Hört man seine Geschichte bis zu diesem Punkt, bleibt vor allem der Eindruck eines "High Performers", wie man in der Wirtschaft sagt. Doch wenn Leuschner über seine Karriere spricht, ist ihm vor allem ein Wendepunkt wichtig.
Mit 34 nimmt sich Leuschner eine Auszeit bei reBuy. "Meine Batterien waren ein bisschen leer. Und ich hatte Fernweh, wollte die Welt sehen." Mit einem Freund kauft er einen alten VW-Bus und fährt 26.000 Kilometer an der Westküste Südamerikas entlang. Die Bilder sind auf Instagram mit #vanlife oder #surfingcolombia versehen und zeigen Leuschner mit zotteligem Haar beim Surfen oder Yoga. Leuschner findet Gefallen am Leben aus dem Rucksack, verlässt reBuy und verlängert seine Reise.
Aber Leuschner sieht nicht nur Strand und Surfer, sondern auch Waldbrände in Chile, Schlammlawinen in Peru, Unwetter in Zentralamerika. "Mir wurde vor Augen geführt, wie verletzlich unsere Natur ist", sagt er heute. "Dadurch wurde der Drang noch größer, ein neues Impact-Unternehmen zu gründen, um CO2-Emissionen zu reduzieren." In Kalifornien, kurz vor seiner Rückreise nach Deutschland, sei er dann auf die elektrischen Scooter aufmerksam geworden. "Die Leute waren super happy. Da war eine riesige Nachfrage", erinnert er sich. "Da war mir klar: Das mache ich."