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VIRTUELLE HOSPITÄLER UND REALE CHANCEN - Text für die Süddeutsche Zeitung

Deutschlands Krankenhäuser stehen vor der digitalen Transformation.

Sie schafft neue Behandlungsmöglichkeiten und kann dazu beitragen, das System zu entlasten, wenn die richtigen Weichen gestellt werden.

Foto hier: Depositphotos

Eine schwer verletzte Frau liegt bewusstlos am Boden. Medizinische Ersthelfer erkennen, dass sie schnell mit Medikamenten versorgt werden muss. Mit einem Klick auf ihre Krankenakte in der Cloud sind ihre medizinischen Daten verfügbar. Sie wissen innerhalb von Sekunden, an welchen Allergien die Frau leidet, welche Blutgruppe sie hat, ob sie geimpft ist und welche Medikamente sie im Alltag braucht. Ein Präparat, das bei ähnlichen Verletzungen oft verabreicht wird, verträgt sie nicht. Sie bekommt daher noch am Unfallort ein Alternativmittel. Die Helfer sehen auch, dass die Frau Tabletten bekommt, um eine Krebserkrankung abzuwenden, die sie noch gar nicht hat, deren bevorstehender Ausbruch aber vorab von künstlicher Intelligenz erkannt wurde. Nach wenigen Tagen in einer auf ihre Verletzungen spezialisierten Klinik, in der sie intensiv versorgt wurde, kann sie nach Hause entlassen werden. Ihre Brüche heilen dort genauso gut. Sie wird via Telefon und App, also mithilfe von Telehealth, von Ärzten betreut und zusätzlich vor Ort von Pflegekräften versorgt. Die letzte, einfachere OP, ein Routineeingriff, kann beim Tageschirurgen durchgeführt werden.

Die Geschichte zeigt: Krankenhausaufenthalte im Jahr 2030 werden sicherlich kürzer und nur bei besonders schweren Verletzungen erforderlich sein. Es wird weniger Krankenhäuser geben. Vieles andere wird ausgelagert sein. Zugleich werden wir Krankheit mittels Daten anders begegnen. Frank Stratmann, Director Hospital & Health bei der Kreativagentur Edenspiekermann, betont: Der Nutzen der über die Jahre zusammengetragenen Gesundheitsdaten ergibt sich nicht allein durch deren Existenz, sondern vor allem durch deren Verfügbarkeit an Ort und Stelle, egal, ob bei einem Notfall zu Hause oder unterwegs oder im OP. Der Patient selbst habe so künftig immer mehr Infos zu seinem Gesundheitszustand. Das verändere die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzten. PFLEGE IST EIN ZUTIEFST MENSCHLICHER VORGANG, UNTER MAUERT MIT ZUWENDUNG UND EMPATHIE Das Beispiel macht auch deutlich, dass sich künftig viel mehr zu Hause abspielen wird. Der Trend geht zum Smart so Prof. Dr. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am Uniklinikum Essen. Das Krankenhaus werde sich in die eigene Wohnung hinein weiterentwickeln. Dieses Konzept setzt eine angemessene häusliche Versorgung voraus, medizinisch und pflegerisch, die Umsetzung von Telemedizin und auch die Implementierung des Konzepts Virtuelles Krankenhaus, wie es in Nordrhein-Westfalen vom Landesgesundheitsminister Laumann angestoßen wurde, erklärt Werner. Das Berufsbild des Arztes werde sich in den nächsten Jahren auch durch Entscheidungsunterstützungssysteme wie beispielsweise Ada Health nachhaltig ändern. In diese App lassen sich bereits heute Krankengeschichte und Symptome eingeben. Algorithmen schlagen diagnostische Maßnahmen vor. Hinzu kämen Telemedizinlösungen, die man sich heute noch gar nicht vorstellen kann. Dabei gehe es nicht darum, ergänzt Frank Stratmann, dass der Arzt mehr zum Techniker werde. Vielmehr müsse er mehr zum Begleiter, Lotsen und Moderator werden und digitale Kompetenz haben, um Zusammenhänge zu verstehen. Laumann plant kein Krankenhaus im heutigen Sinne, sondern eine vom Krankenhaus her gedachte ambulante Versorgung. Der ärztliche Erstkontakt soll virtualisiert werden. Eine medizinische Einrichtung, zum Beispiel ein Krankenhaus, wird immer dann einbezogen, wenn das nötig ist. Im Krankenhaus selbst könnten digitale Innovationen in Zukunft die Behandlungsqualität weiter steigern und mehr Flexibilität ermöglichen. Ein wichtiger Hoffnungsträger ist dabei die Robotik in der Chirurgie: So können roboterassistierte Operationen oft mit präziseren Schnitten durchgeführt werden. Deshalb ziehen sie Studien zufolge weniger Komplikationen nach sich. Komplexes medizinisches Spezialwissen wiederum muss nicht mehr zu jedem Gebiet gleichermaßen im Krankenhaus vertreten sein, wenn man mithilfe von Telemedizin auf die Expertise eines anderen Hauses zurückgreifen kann. Auch mit Blick auf Pflegeberufe erwarten Experten positive Effekte durch die Digitalisierung, allerdings mit Einschränkungen. Medizinischer und technischer Fortschritt sowie die Digitalisierung könnten zwar den Pflegebedarf etwas schmälern, dennoch dürfte die Thematik in den Krankenhäusern weiter an Brisanz gewinnen, heißt es auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums. Schon jetzt fehlen viele Pflegekräfte, bekräftigt auch Esther Dürr, Personalleiterin des St. Vinzenz-Krankenhauses Hanau, derzufolge Fachkräfte aus dem Ausland eine wichtige Verstärkung sind, die es weiter zu fördern gelte. Es ist gut, dass im Zuge des neuen Pflegepersonalstärkungsgesetzes alle Pflegekräfte auf bettenführenden Stationen von den Krankenkassen finanziert werden. Noch nicht sicher finanziert werden Anerkennungsmaßnahmen für ausländische Pflegekräfte, die je nach Herkunftsland notwendig sind, damit ihre Ausbildung bei uns akzeptiert wird. Diese künftigen Pflegekräfte müssten zunächst Praxiseinsätze absolvieren, ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen und Prüfungen ablegen. Bis diese Mitarbeiter die deutsche Berufsurkunde in Händen halten, könnten bis zu 18 Monate vergehen, in diesem Zeitraum würden sie als pflegerische Hilfskräfte vergütet. Auch diese Maßnahmen inklusive aller damit verbundenen Kosten müssen zuverlässig vergütet werden, betont Esther Dürr. Auch Prof. Dr. Jochen Werner sieht Möglichkeiten zur Optimierung. Um den Pflegerberuf attraktiver zu machen, fordert er unter anderem flexiblere Arbeitszeiten, bessere Zugänge zu Kindertagesstätten, das Vermeiden schweren Hebens sowie der patientenfernen Beschäftigung mit administrativen Tätigkeiten. Wenn wir uns dem nicht annehmen, besteht ein relevantes Risiko, dass wir den Pflegenotstand perpetuieren trotz zusätzlicher Kräfte aus dem Ausland. Pflegeroboter können seiner Ansicht nach hilfreich sein, etwa wenn sie das Pflegepersonal bei schweren Hebetätigkeiten entlasten. Als vollwertigen Ersatz für Menschen sieht er Maschinen im Krankenhaus aber keinesfalls: Pflege ist ein zutiefst menschlicher Vorgang, untermauert mit Zuwendung und Empathie, betont der Mediziner.

Eva Werner