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Flieg oder stirb

© Christian Hager/dpa

In der neuen Wohnung meiner Mutter war kein Platz mehr für mich. Ich fühlte mich wie aus dem sicheren Nest geschubst, doch heute kann ich sagen: Ich bin sicher gelandet.

Vor ein paar Tagen habe ich über Trottellumme gelesen, eine Meeresvogelart. Obwohl ihre kleinen Küken noch flugunfähig sind, springen sie aus über 40 Metern Höhe aus dem Nest ins kalte Meer. Vielleicht kommt ja auch daher der Name. Manche Küken verfehlen das Wasser und prallen auf den Steinstrand. Aufgrund der Fettschicht, die sich die Tiere vorher angefressen haben, überleben die meisten aber diesen Sturz. Unten angekommen werden sie von den Eltern weiter gefüttert, bis sie schließlich das Fliegen gelernt haben.

Ich fühlte mit den armen Dingern im kalten Wasser, denn vor einiger Zeit war es mir ähnlich ergangen. Ich hatte meiner Mutter eröffnet, dass ich nach dem Abitur ausziehen wolle, und war beleidigt, als ich sah, wie unberührt sie das ließ. Keine Tränen, keine "Es ist noch zu früh"-Diskussion. Dabei hatte ich mir doch ehrlich Sorgen gemacht. Konnte ich es verantworten, sie so ganz alleine zu lassen? In meiner Vorstellung würde meine Mutter ohne mich vereinsamen. Ja, ein bisschen Widerstand hätte ich doch erwartet.

Doch dann: Kurz nachdem ich ausgezogen war, kaufte sich meine Mutter eine kleine Wohnung am Stadtrand. Große Terrasse, zwei Zimmer, kein Platz für ein Zurück der Tochter. Ich fühlte mich, als wäre ich aus dem sicheren Nest geschubst worden. Flieg oder stirb. Oder triff zumindest das Wasser.

Es hat zwar ein wenig gedauert, aber mittlerweile kann ich ihre Reaktion verstehen. Sie bedeutete wohl nicht, dass sie froh darüber war, ihre Tochter los zu werden. Meine Mutter war stolz auf meine Selbstständigkeit und hatte Vertrauen in mich. Sie wusste, dass sie kein Recht dazu hatte, sich gegen meine Entscheidung zu stellen oder gar die klammernde Mutter zu spielen. Auch wenn sie ihre stillen Bedenken hatte. 

Schlussendlich wurde ich nicht obdachlos und Mama nicht einsam. Jeden Sonntag kocht sie für ihre Mädchen, auch für einen schnellen Kaffee zwischendurch ist fast jede Woche Zeit. Sie trifft nun gern abends Freunde und verreist spontan. So nah wie wir uns jetzt sind, waren wir uns wohl zuvor noch nie. Und als unsere kleine Studenten-WG schon nach einem halben Jahr wieder zerbrach, blies meine Mutter ohne zu fragen die Luftmatratze für mich auf und ließ mich in ihrem Wohnzimmer campieren, bis ich eine neue Bleibe gefunden hatte.

Vielleicht sind meine Mutter und ich ja ein bisschen wie diese Trottellumme. Das Küken springt zwar zu früh ab, aber die Eltern vertrauen einfach darauf, dass die Fettschicht dick genug ist. (ZEIT ONLINE, Eva Walisch, 16.1.2015)


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