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Feature

So hell die Nacht


Wer jetzt nach Tromsø reist, lernt, der polaren Dunkelheit zu trotzen.


Mariano Macchi schließt die Augen und dreht sein Gesicht ins Helle. Draußen vor der Tür ist der Himmel auch um halb zehn am Morgen noch nachtschwarz. Der italienische Informatikstudent ist für ein Auslandssemester in Tromsø. Als es dort die Sonne Ende November nicht mehr über den Horizont schaffte, verschlief Macchi seine Vorlesungen und dachte beim Aufwachen um zwölf Uhr mittags, es sei noch früh. Er brauchte einen Sonnenersatz, um den Tagesrhythmus wieder zu finden. Deshalb sitzt er jetzt jeden Morgen eine halbe Stunde unter den Tageslichtlampenim Polarnachtcafé, das die Universität Tromsø für ihre Studenten eingerichtet hat.


Wer Tromsø auf dem Globus sucht, muss an der norwegischen Atlantikküste mit dem Zeigefinger weit nach oben wandern. Die Stadt mit ihren 71 000 Einwohnern liegt auf einer Insel dicht vor der Küste, rund 350 Kilometer nördlich vom Polarkreis und damit so weitim Norden, dass sie Trägerin vieler Nonsens-Rekorde ist: Tromsø ist die Stadt mit dem nördlichsten Symphonieorchester der Welt, der nördlichsten Brauerei der Welt und dem nördlichsten Burger King der Welt. Von hier aus brach Fridtjof Nansen vor 120 Jahren zu einer Expedition auf, bei der er dem Nordpol so nah kam wie noch kein Mensch zuvor. Im Sommer gehen die Einwohner von Tromsø in der Mitternachtssonne wandern. Im Winter dauert die Dunkelheit zwei Monate, von November bis Januar.


Vor über hundert Jahren waren es viele Deutsche und Dänen, die in Tromsø Handel trieben. Für Expeditionen in den noch höheren Norden reisten um die Jahrhundertwende Forscher aus der ganzen Welt an. Heute kommt von den 10 000 Studenten in der Stadt jeder zehnte aus dem Ausland. Und seit einigen Jahren siedeln sich immer mehr internationale Ölkonzerne in Tromsø an.


Die meisten Ausländer aber kommen für die Polarnacht nach Tromsø. Denn in den dunklen Tagen ist das besonders gut zu sehen, wonach die Touristen bei der Information immer als Erstes fragen: Nordlichter, die am Himmel entstehen, wenn geladene Teilchen des Sonnenwinds auf die Erdatmosphäre treffen. Tromsø liegt direkt im Nordlichtgürtel. An guten Tagen flackern orangene Feuer über den Himmel, tanzen grüne Trichter vor den Sternen. Der Horizont von Tromsø sieht dann aus wie die schönste Fototapete der Welt. Und weil in Tromsø durch die Nähe zum Golfstrom die Temperatur auch im Winter selten unter minus zehn Grad sinkt, fällt die Nordlichterjagd sogar vergleichsweise gemütlich aus. In den vergangenen Jahren kamen immer mehr Touristen; im Shop der Touristeninformation sieht man das Grün der Polarlichter überall: gedruckt auf Tassen und kleine Lampenschirme, als schillernder Farbverlauf auf einem Seidenschal. Die Wintertouristen bleiben in Tromsø im Schnitt für fünf Tage. Wenig Zeit für ein Erlebnis, das man sein Leben lang nicht vergessen will, das aber kommt und geht, wie es ihm passt. Nordlichteraktivität lässt sich ungefähr vorhersagen, aber nie sicher. Außerdem schlägt das Wetter durch die Küstennähe so schnell um, dass einem der sternenklare Polarnachthimmel schnell, tja, verhagelt werden kann.


Lichterketten und Sterne in jedem Fenster: Einladungen an Spaziergänger in der Nacht


Das Polarcafé auf dem Campus besuchen nur Ausländer und Südnorweger. Viele Nordnorweger sagen, dass sie im Winter genauso gut oder schlecht leben wie im Sommer. Vor ein paar Jahren befragten Mediziner die Bewohner von Tromsø. Sie fanden heraus, dass sich diese in der Polarnacht nicht niedergeschlagen fühlten. Aber vielleicht nimmt die Sonnensehnsucht bei den Nordnorwegern auch nur verschlungenere Wege. Tromsø wird in der Polarnacht zum Albtraum jedes Umweltschützers, weil kaum einer hier das Licht ausmacht, wenn er aus dem Haus geht: Im Familienviertel Tomasjord fällt das Licht aus den Zimmern der Holzhäuser auf die hüfthohe Schneedecke in den Vorgärten. Lampen, Lichterketten und Weihnachtssterne glimmen in jedem Fenster. Einladungen an Spaziergänger in der dunklen Nacht. Im Sommer verkauft Gaute Berg wegen der Mitternachtssonne gar keine Lampen, im Winter dafür in allen Formen und Farben: große Ballons aus Holzpanelen, geschwungene Kronleuchter, kleine Fensterlampen. Der Besitzer des Einrichtungsgeschäfts in der Fußgängerzone erzählt, dass viele Kunden besonders unglücklich über die Einführung der Energiesparlampen im vorigen Jahr waren. „Sie mussten auf einmal mit viel kälterem Licht leben.“


An klaren Dezembertagen sehen die Augen die Polarwelt neu. Alles ist blau gefärbt


Øivind Sjøvolls Gesicht ist heute lilablau bemalt. Der DJ legt an diesem Samstagabend auf zu einer experimentellen Performance. Schauspieler, Musiker und Tänzer haben sich zusammengetan, um im alternativen Theater Rådstua einen Traum zu inszenieren. „In der Polarnacht rücken die Menschen näher zusammen“, sagt Sjøvoll. Besonders die Elektroszene ist gut vernetzt. Natürlich kennt Sjøvoll auch die zwei weltbekannten Musiker aus Tromsø persönlich, die dem Rest der Welt nur unter dem Namen Röyksopp bekannt sind. Sjøvoll erzählt, dass in den vergangenen Jahren viele DJs aus Tromsø nach Berlin gegangen sind. Sjøvoll bleibt. Wegen seiner Familie. Aber auch wegen der Stadt. „Tromsø hat die Ruhe, dieich brauche für den kreativen Prozess“, sagt er. „Wenn man anlangen Winterabenden mit anderen arbeitet, entsteht eine spezielle Energie.“ Das Studio in seinem Keller ist der Raum im Haus, der im Winter immer beheizt ist. Seine Musik hört sich so klar und doch melodiös an, als hätte er Nordlichter in Töne gegossen.


Das Kulturleben von Tromsø wird vor allem in den dunklen Monaten lebendig. Als 1972 die Universität öffnete, kamen zwar viele Studenten in die Stadt, zogen als hochqualifizierte Arbeitskräfte aber auch wieder weg. Im Winter litten viele, die sich nicht auf Langlaufskieren in die tief verschneite Wildnis stürzen wollten, in Tromsø schnell unter Beschäftigungsmangel. Auch um sie zu halten, beschloss die Stadtverwaltung, in Lebensqualität zu investieren. Heute gibt Tromsø für Kultur vergleichsweise viel Geld aus: für Theater, Förderprogramme für junge Künstler, für Festivals. Zum Internationalen Filmfestival im Januar sollen 45 000 Besucher kommen. Sie werden auf einer Leinwand aus Schneequadern „Dead Snow“ sehen, einen norwegischen Zombiefilm. Eine Mitternachtsvorstellung auf dem Marktplatz der Stadt. Mitternacht nicht nur wegen der Altersbeschränkung der Splatterkomödie. Der Film wird auch deshalb nachts gezeigt, weil nachmittags das Bild nicht gut zu erkennen wäre. Denn Polarnacht bedeutet nicht, dass jemand von heute auf morgen für zwei Monate das Licht ausknipst. Wenn die Sonne dem Horizont am nächsten kommt, schenkt sie der Stadt jeden Tag ein paar Stunden Dämmerung. 


An wolkigen Tagen taucht die Insel dann ab in ein schattenloses Zwielicht, in dem Konturen kaum zu erahnen sind, sich die Helligkeit wie ein matter Filter über die Stadt legt. An klaren Dezembertagen aber, wenn der frische Schnee auf der Hafenpromenade von Tromsø nicht fedrig stäubt, sondern bei minus sieben Grad unter den Sohlen knirscht, sehen die Augen die Polarwelt plötzlich neu. Der Schnee leuchtet dann blau, weil er das Licht reflektiert. Tromsø berührt einen dann anders: In der Ferne werden die runden Gipfel der Lyngenalpen vor dem sonnenlosen Himmel zu grauen Walen, die die Stadt behüten. Die Eisschollen im Hafenwasser schwimmen als loses Puzzle auf dem dunklen Fjord. Und im Langlaufgebiet zwischen Universität und Zentrum fühlt man sich nur wenige Kilometer von der Fußgängerzone entfernt unter dichten Tannenwipfeln wie der einzige Mensch auf der Welt.


In der Bastard Bar produzieren drei Jugendliche an diesem Samstagabend Hard Rock, über den man wohlwollend sagen kann, dass er ungeschliffen klingt. Ihre Eltern trinken ein paar Häuser weiter auf der überdachten Terrasse der Jernbanestasjon, mit jeder Stunde wird das Anprosten ein bisschen lauter.


Gefühlt halb Tromsø schlittert an Wochenendnächten im Stadtzentrum angeschwipst von einer Bar zur anderen. Tromsø ist die Stadt mit der höchsten Kneipendichte pro Einwohner in Norwegen. Ein Titel, der auf den ersten Blick ganz gut zum Klischee passt, nach dem der Nordnorweger die dunklen Monate nur mit literweise Aquavit erträgt. Ein Taxifahrer, der am Marktplatz auf Gäste wartet, hält von dem Gerede nicht viel. Er erzählt, dass die Clubbesucher in der Polarnacht zur Sperrstunde um halb vier Uhr genauso betrunken sind wie unter der Mitternachtssonne. Und im staatlichen Vinmonopolet, in dem die Norweger alle starken Alkoholika kaufen müssen, geht in Tromsø in der Dunkelzeit nicht mehr Schnaps über die Theke als im Sommer.


Aber man kann sich ohnehin anders beschäftigen: „Alleine in der Dunkelheit auf den Berg zu joggen, das ist Freiheit.“ Bjørnar Leithe Borch liebt den Lauf durch die Stille der Polarnacht, wenn die Natur verstummt und er nur dem eigenen Atem zuhört. Heute aber trainiert Leithe Borch mit den Mitgliedern des Laufklubs Tromsø im Abgasdunst. Weil beim Schneeregen in den letzten zwei Tagen auch hartgesottene Läuferlieber daheim blieben, wurde das Training des Laufklubs in die Tiefgarage verlegt. Hier schwitzt Leithe Borch nun zwischen Leitplanken und Volvos. 930 Meter misst eine Runde, 14 stehen heute auf dem Programm. Anfang Januar will Leithe Borch fit sein für den alljährlichen Polarnachthalbmarathon, bei dem die Läufer auf einem beleuchteten Weg die Stadt umrunden bis ins Ziel in der Fußgängerzone.


In einer Parknische hängt ein einzelnes Kunstobjekt an der Betonwand. Ein gut gemeinter, aber schlecht gemachter Stimmungsaufheller: Die untergehende Sonne aus bemaltem Pressholz kommt gegen das kalte Licht der Neonröhren mit Wackelkontakt nicht an. Immerhin ist sie nützlich. Als die Läufer nach drei Runden warm geworden sind, hängen sie ihre Jacken über den Sonnenuntergang.


erschienen in der "Süddeutschen Zeitung"


Foto von Conny Mirbach: www.connymirbach.de