In Sao Paulo besetzen tausende Obdachlose ein Grundstück in Sichtweite des WM-Stadions. In Rio folgt Busfahrerstreik auf Polizeistreik. Aber wer steht eigentlich hinter den Demonstrationen? Wie organisiert sich die Bewegung?
Joyce bereitet sich auf das nächste Spiel vor. Sie bindet sich die schwarzen, lockigen Haare zusammen, zieht ihr rotes Schweißband über die Stirn. Schienbeinschoner, Stulpen, die pinken Fußballschuhe fest zugeschnürt. Mit ihrer Mannschaft spielt die 15-Jährige heute ein Turnier in Salgueiro, einer Favela in der Nordzone von Rio de Janeiro. Auf einem Fußballplatz aus schmuddeligem Kunstrasen, ganz oben auf dem Hügel. Joyces Team ist der Favorit des Wettkampfes. Aber ums Gewinnen geht es ihr heute nicht.
"Wir sind zum Fußball spielen hierher gekommen. Aber auch, um zu protestieren. Ich freue mich auf die Fußball WM, aber ich glaube auch, dass wir hier Probleme haben, die wir hätten lösen sollen, bevor wir eine Weltmeisterschaft ausrichten."
Deswegen spielt sie heute mit, beim „Copa Popular", der Weltmeisterschaft des Volkes. Hier kicken die, die nichts von dem Glamour der WM abbekommen. Die, die unter steigenden Lebenshaltungskosten leiden. Die sich, wie Joyce, ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem mehr wünschen als die Weltmeisterschaft im eigenen Land.
Organisiert wurde das Favela-Turnier vom „Comite Popular da Copa", dem Volkskomitee der Weltmeisterschaft. Christopher Gaffney ist Mitglied des Komitees. Seit fünf Jahren wohnt der Geologe aus Vermont in Rio. Gaffney steht am Rand des Fußballplatzes, hinter ihm erstrahlt das frisch renovierte Maracana-Stadion. Für ihn ein Beispiel, das zeigt, was in Brasilien falsch läuft:
"Unsere Stadien, wie das Maracana, wurden privatisiert. 60 Jahre lang war das Stadion ein Ort für Jedermann. Jetzt können sich viele Leute die teuren Eintrittskarten nicht mehr leisten. Und wir sind gegen ein solches Stadtmodell: öffentliche Gelder zu benutzen, um großen Unternehmen Gewinne einzubringen, anstatt den kleinen Leute zu helfen."
Aktivisten gehen in traditioneller brasilianischer Kleidung auf die Straße
Seit 2007 organisiert das Volkskomitee Protestaktionen. Zuerst während der Panamerikanischen Spiele, im letzten Jahr während des Confed Cups und jetzt zur WM. Nie hätte das Komitee erwartet, zehntausende Menschen auf die Straße zu bekommen. Doch der Frust über steigende Lebenshaltungskosten, Vertreibungen und Privatisierungen schweißt zusammen - selbst die heterogene brasilianische Gesellschaft.
Jeden Dienstag Abend trifft sich das Komitee, um neue Aktionen zu planen. Ungefähr 30 Leute gehören zum festen Kern. Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten arbeiten zusammen: Universitätsprofessoren diskutieren mit Favela-Bewohnern, Studenten mit Straßenhändlern. Und ein für Brasilien einmaliges soziales Netzwerk entsteht. Maria de Oliveira wohnt in einem der Armenviertel Rios.
"Seit Januar 2012 kämpfe ich dafür, nicht aus meinem Haus ausziehen zu müssen. Die Stadt will mich und die anderen 500 vertreiben. Sie will das Gebiet verkaufen, an Immobilienfirmen, die dann Riesen-Appartments bauen."
Die 57-Jährige trägt ein weißes T-Shirt. In fetten roten Buchstaben steht „Nao vai ter Copa" darauf - es wird keine Weltmeisterschaft geben. Dass das Turnier trotz aller Proteste in zwei Wochen angepfiffen wird, weiß sie. Eines ist für sie trotzdem sicher:
"Die Weltmeisterschaft, die die ganze Welt von Brasilien erwartet hat, wird es nicht geben. Für mich findet diese Weltmeisterschaft einfach nicht statt. Das ist ein Event für große Unternehmen und nicht für mich."
Maria wird auch weiterhin auf die Straße gehen. Für den Eröffnungstag plant das Komitee eine große Demonstration. Auch andere Protestgruppen arbeiten weiterhin auf Hochtouren. Das Medienkollektiv Midia Ninja begleitet Proteste mit dem Smartphone, Lehrer- und Polizeigewerkschaften organisieren Streiks. Trotzdem: Massenprosteste wie die während der Confed Cups werden ausbleiben, glaubt Christopher Gaffney:
"Die brasilianische Polizei ist bewaffnet und darauf trainiert, die Proteste zu unterdrücken. Die Leute, die auf die Straße gegangen sind, haben Gummigeschosse ins Gesicht bekommen. Die haben jetzt Angst, ich habe auch Angst."
Joyces Team gewinnt nach 30 Minuten Spielzeit mit 8:2. Sie werden heute den Cup mit nach Hause nehmen. Einen kleinen Plastik-Pokal, auf dem das Maskottchen des Copa Popular abgebildet ist. "Saci Perere", eine Figur aus der brasilianischen Mythologie. Überall, wo der kleine, freche Kobold hinkommt, löst er Chaos aus. Das ist auch das Ziel des Volkskomitees: Die Weltmeisterschaft ein bisschen durcheinander bringen.