In der Nacht zu Freitag setzte die Polizei in Tiflis Tränengas und Gummigeschosse ein, es gab mehr als 200 Verletzte, zwei von ihnen verloren ein Auge. Mehr als 300 Demonstranten wurden festgenommen. Auslöser war der Auftritt einer russischen Delegation bei einer Tagung von Vertretern aus christlich-orthodoxen Ländern. Die Russen sind mittlerweile abgereist, der georgische Parlamentspräsident trat, wie von den Demonstranten gefordert, zurück - und doch gehen die Proteste weiter.
Sie richten sich nicht nur gegen die georgische Regierung, sondern vor allem gegen Russland. Die beiden Länder unterhalten seit ihrem kurzen Krieg 2008 keine außenpolitischen Beziehungen mehr, Russland kontrolliert die beiden abtrünnigen georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien. „Abkhazia is Georgia" ist auf den Schildern der Demonstranten zu sehen. Neben der georgischen schwenken sie auch die Flagge der EU und der USA.
Die meisten Rednerinnen und Redner schreien ihre Worte fast in die Nacht hinaus, die Stimmung entflammt immer wieder, auch an einzelnen Worten. „Meine Mutter musste aus Abchasien fliehen und heute kommen die Okkupanten in unser Parlament", ruft eine Frau entschlossen. Die Menge, es sollen etwa 10.000 Menschen sein, schreit frenetisch auf.
Um gegebenenfalls Verletzte schnell zu versorgen, sind zwei angehende Mediziner freiwillig am Freitag im Einsatz. Sie sind beide Anfang zwanzig, tragen weiße Arztkittel und kleine Erste-Hilfe-Koffer. „Wir hoffen, dass es nicht wieder so wird wie am Tag zuvor", sagt Georgi. „Und wir wollen Neuwahlen. Die Polizei hat gezeigt, dass diesem Staat nicht zu trauen ist." Etwa fünfzig Kommilitonen seien heute Nacht mit ihnen da.
Georgi und seine Freunde weisen wütend darauf hin, dass die von der Polizei eingesetzten Gummigeschosse die Haut durchschlagen oder Brüche verursachen können. „Es ist eine Schande, dass unsere Einsatzkräfte so gegen die eigene Bevölkerung vorgehen." Definitiv ist das Vorgehen der Polizei ein Zäsur, hat es Georgien unter der gegenwärtigen Regierung des Parteienbündnisses „Georgischer Traum" noch keine vergleichbaren Szenen gegeben, obwohl schon häufiger große Proteste entflammt sind, beispielsweise nach einer Serie an Razzien in den Nachtclubs von Tiflis 2018.
Etwas abseits des Geschehens sitzt Nina. „Mir wurde gestern meine Tasche zerrissen und ich hab auch einiges abbekommen", sagt sie. Nina ist 22, lesbisch und setzt sich für die Rechte von queeren Menschen ein, die regelmäßig von Rechten attackiert werden. „Viele hier in Georgien wollen uns nicht", sagt sie. Selbst ihre eigene Mutter hätte den Kontakt mit ihr abgebrochen, nachdem sie sich geoutet hätte. Und ihr Vater? Der fände es mittlerweile okay, was aber auch der Grund für die Trennung ihrer Eltern sei. „Meine Mutter hat mir und meiner sexuellen Orientierung die Schuld dafür gegeben", erzählt Nina. Auch deshalb gehe sie heute auf die Straße - „für eine freie, tolerante Gesellschaft".
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