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Wie wir Erinnerungsfähigkeit trainieren

Meine dreieinhalbjährige Tochter hat in diesem Jahr eine kleine Schwester bekommen, Velofahren gelernt - und ihr Alltag wurde aufgrund der Corona-Krise stark durcheinandergewirbelt. Ich zumindest werde das Jahr 2020 sicher nicht vergessen. Aber wird sich auch meine Tochter an all diese Dinge erinnern, wenn sie erwachsen ist? Wenigstens an eines der Ereignisse? Und wenn ja, an welches?

Aussergewöhnliches bleibt in Erinnerung

"Ich tippe auf die Geburt der Schwester", sagt Pamela Banta Lavenex. Die Neurowissenschaftlerin ist ausserordentliche Professorin an der FernUni Schweiz und erforscht die Entwicklung des Gedächtnisses. Ein Geschwisterchen zu bekommen sei ein so aussergewöhnliches Ereignis, dass sich meine Erstgeborene auch in vielen Jahren noch daran erinnern werde.

Die Corona-Krise hingegen dauere so lange, dass sie letztlich zum Alltag werde. Und an alltägliche Situationen könne man sich langfristig nur schwer erinnern.

Infantile Amnesie ist normal

Ich denke zurück an meine eigene Kindheit. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, habe ich einen Bruder bekommen, wenig später ereignete sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und wir zogen mehrere Hundert Kilometer weit weg von unserem bisherigen Wohnort. Ich erinnere mich an keines dieser Ereignisse. Stimmt etwas nicht mit mir? "Das ist völlig normal", beruhigt mich Pamela Banta Lavenex. "Die überwiegende Mehrheit unserer Erinnerungen aus den ersten zwei oder drei Lebensjahren überlebt nicht, weil sich das Gehirn noch so stark entwickelt." Das Phänomen heisst infantile Amnesie.

Die gute Nachricht: Es ist längst nicht alles verloren, was wir in den ersten Lebensjahren erleben. Die Forschung unterscheidet zwischen impliziten und expliziten Erinnerungen. Zu den impliziten Erinnerungen gehören die vielen Fähigkeiten, die wir erwerben: Laufen, Sprechen, Velofahren und noch so vieles mehr. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt gehe, erinnert sich mein Gehirn daran, wie das geht - obwohl ich nicht mehr weiss, wie ich es gelernt habe.

Früheste Erinnerungen ab etwa 2 Jahren

Zu den expliziten Erinnerungen gehören die sogenannten episodischen Erinnerungen, die wie ein Film vor unserem geistigen Auge ablaufen. Zum Beispiel der Besuch im Spital, nachdem die kleine Schwester geboren wurde. "Erst mit etwa zwei Jahren sind wir in der Lage, erste episodische Erinnerungen zu formen", sagt Pamela Banta Lavenex. Deshalb sei es unmöglich, sich zum Beispiel an die eigene Geburt zu erinnern.

Wer eine glückliche Kindheit hatte, vergisst besonders viel.

Die ersten Erinnerungsfilme können aber auch erst aus dem vierten, fünften, sechsten oder siebten Lebensjahr stammen. Wer eine glückliche Kindheit ohne einschneidende Erlebnisse hatte, vergisst für gewöhnlich besonders viel: "Weil sich die Erinnerungen zu sehr ähneln", erklärt die Neurowissenschaftlerin.

Meine Dreieinhalbjährige erzählt aber immer wieder von besonderen Ereignissen, die monatelang zurückliegen. Weshalb wird sie viele dieser Erinnerungen langfristig wahrscheinlich verlieren? Das liegt laut Banta Lavenex zu einem grossen Teil an der Entwicklung des Hippocampus. Dieses kleine Areal in unserem Gehirn, das wie ein Seepferdchen aussieht, ist die zentrale Stelle für das Erstellen und Abspeichern von episodischen Erinnerungen.

Das Gehirn formt sich neu

"Zwischen der Geburt und etwa dem fünften Lebensjahr kommen in einem Teil des Hippocampus noch 40 Prozent der Neuronen dazu, die man im Erwachsenenalter hat", erklärt die Forscherin. Diese Nervenzellen bilden ein Netzwerk, in dem Informationen gespeichert werden. Wenn aber neue Neuronen entstehen, zerschlagen sie ursprüngliche Verbindungen. So verlieren sich mit der Zeit viele Erinnerungen im Trümmerfeld unseres Gehirns. Sie sind zerstört. Für immer.

Andere Erinnerungen verpuffen, weil sie nicht detailliert genug abgespeichert werden konnten. Mit rund zwei Jahren entwickeln Kinder laut Pamela Banta Lavenex erste Vorstellungen von Zeit und Raum. Doch erst im Laufe der Kindheit wird diese Fähigkeit ausgeprägter.

Ausstellung im Museum der Kulturen Basel

Die neue Dauerausstellung im Museum der Kulturen Basel widmet sich seit Juni 2020 dem Thema Erinnern: "Memory - Momente des Erinnerns und Vergessens", deckt spielerisch Momente auf, deren gedacht wird - wie Geburt oder Tod -, aber auch solche, die schnell in Vergessenheit geraten.

Habe ich das Bild in der Wohnung oder im Garten gemalt? Im Wohnzimmer oder im Kinderzimmer? Am Schreibtisch oder auf dem Boden liegend? War es am Morgen oder nach dem Mittagessen? Je mehr solcher Details Kinder ihren Erinnerungen zuordnen können, desto langlebiger werden die Rückblicke. War ich dabei wütend, ängstlich oder habe ich mich ausserordentlich gefreut? Wenn noch dazu eine Emotion abgespeichert wird, erhöht sich die Chance, dass die Erinnerung lange erhalten bleibt. Das ist laut Pamela Banta Lavenex übrigens der Grund, weshalb sich viele Menschen eher an negative Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnern: Negative Gefühle signalisieren einen Ausnahmezustand. Es muss etwas passiert sein, woran ich mich erinnern sollte.

Erinnnerungsfähigkeit trainieren

Aber nicht nur die Entwicklung unseres Gehirns ist entscheidend dafür, dass Erinnerungen aus der Kindheit bestehen bleiben. Wir müssen auch selbst etwas dafür tun, längst Vergangenes aus dem Sumpf des Vergessens zu retten.

Forschende haben herausgefunden, dass Erwachsene aus asiatischen Ländern im Durchschnitt mehr als die ersten vier Jahre ihres Lebens vergessen. In westlichen Ländern hingegen sind bei den meisten Menschen bloss die ersten dreieinhalb Jahre des Lebens verloren.

Das liegt laut Pamela Banta Lavenex an den unterschiedlichen Kulturen. "Bei uns im Westen sind die Menschen individualistischer", erklärt sie. "In Gesprächen möchte mein Gegenüber wissen, was ich erlebt habe und was mir wichtig ist. Diese individuellen Erinnerungen sind in asiatischen Ländern weniger wichtig." Das bedeutet: Wenn Eltern ihre Kinder regelmässig fragen, was sie erlebt haben und was sie dabei empfunden haben, trainieren sie die Erinnerungsfähigkeit ihrer Kinder.

Regelmässig ausgewählte Bilder anschauen, kräftigt Erinnerungen.

Können dabei auch die vielen Fotos helfen, die Eltern heutzutage von ihren Kindern machen? Die Gedächtnisforscherin ist skeptisch. "Wenn wir die Fotos jeden Tag anschauen würden, könnten sie die Erinnerung an die vielen Ereignisse stärken. Aber das tun wir nicht und das können wir auch gar nicht." Sie schlägt vor: "Man könnte dem Kind ein ausgewähltes Bild regelmässig zeigen, um eine spezielle Erinnerung zu kräftigen."

Wissen ersetzt Erinnerung

Eine Erinnerungsgarantie gibt es trotzdem nicht. Doch eines ist sicher: Auch die Ereignisse, an die wir uns nicht erinnern, begleiten uns ein Leben lang. "Ich muss mich nicht daran erinnern, in welcher Situation ich mir als Kind die Finger verbrannt habe", erklärt Banta Lavenex.

"Irgendwann einmal ist es passiert. Die Information, dass zum Beispiel eine heisse Herdplatte gefährlich ist, ist nun ein Teil von mir. Das nennen wir eine semantische Erinnerung."

Zurück zu meiner Tochter: Sie wird wahrscheinlich irgendwann vergessen haben, wann sie das erste Mal alleine Velo gefahren ist. Aber ihr Körper wird sich bei jedem Tritt in die Pedale erinnern, wie es geht. Womöglich wird sie sich nicht an die Corona-Zeit erinnern. Vielleicht aber bleibt ihr ein Gespür für die Gefahr, die ein Virus auslösen kann, als semantische Erinnerung erhalten. Und die Erinnerung an die Geburt der Schwester? Wir trainieren sie, indem wir Fotos anschauen und darüber sprechen. Und hoffen, dass die Bauarbeiten in ihrem Hippocampus diesen ganz besonderen Erinnerungsfilm unberührt lassen.

Eva Mell hat Theologie, Germanistik und Geschichte studiert. Nach ihrem journalistischen Volontariat bei einer Tageszeitung hat sie mehrere Jahre als Redaktorin in verschiedenen Redaktionen gearbeitet. Derzeit ist sie freischaffende Journalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Basel.

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