Der Verwaltungsangestellte Marcel Ellinger aus Esslingen wird in seiner Freizeit zu einem schwarzen Raubtier. Warum verkleidet er sich?
Berkheim auf der Filderebene: Moderne Einfamilienhäuser kuscheln sich an Bauernhöfe und Arbeitersiedlungen. Eine Wohnung in einer Seitenstraße, erster Stock, braune Eingangstür, ein enger Flur und Wände voller Plakate, Bilder, Fotos, Zeichnungen wie in einem Jugendzimmer. Durch den halb geöffneten Rollladen schießen die letzten Sonnenstrahlen des Tages helle Kreise auf den Teppichboden. Die Nymphensittiche Riki und Kiki tragen in einem Käfig ihre gelben Frisuren zur Schau. Die Siamkatze Snowy schleicht um den Türrahmen zur Küche, ihre Mutter Maya hält sich versteckt. Und mitten im Wohnzimmer auf einem Regal wie auf einem Altar liegen fein drapiert die Einzelteile eines Wolfs: seine Schnauze, sein Fell, seine Pfoten. Das Kostüm verwandelt Marcel Ellinger in Berkwolf.
Zehn Minuten dauert es. Dann hat sich Ellinger bis auf die Unterwäsche entkleidet, das Fell über den Körper gezogen, den Kopf aufgesetzt und die Fuß- und Handpfoten angelegt. Berkwolf erwacht. Langsam schreitet er durch die Schlafzimmertür. Ein Riese, ein wildes Tier, die langen Krallen bohren sich in den weichen Teppich. Schließlich steht er einfach da, denn in der Wohnung gibt es nichts mehr anzufassen mit den Tatzen, die für den Wald gemacht sind.
Was in Marcel Ellinger vorgeht, wenn er der Berkwolf ist, kann man von außen so wenig sehen wie das Gesicht von Rotkäppchen im Bauch des bösen Wolfs. An den Wochenenden fährt er zu Treffen mit Gleichgesinnten. Gemeinsam ziehen sie durch die Straßen der Städte, gesprochen wird dabei nicht. Die Tiere winken den kleinen Kindern zu und posieren für Fotos, die Passanten verlangen.
Wenn Marcel Ellinger der Berkwolf ist, weiß er instinktiv, wie er sich verhalten muss. Manchmal umarmt er einen Fremden, der auf ihn zukommt. Mit Gesten zu sprechen kann einfacher sein, als immer die richtigen Worte zu finden - und ehrlicher.
Wenn der Berkwolf auftaucht, zieht er die Blicke auf sich in den eintönigen Fußgängerzonen, wo viele sonst bloß mit vollen Einkaufstüten einer routinierten Geschäftigkeit nachgehen. Die Leute bleiben stehen und staunen. Nicht jeder traut sich, das pechschwarze Fell des großen Tiers zu streicheln. Der Wolf kennt keine Floskeln, er hat in der Stadt nichts zu erledigen. Er kauft kein Weckle und keine Funktionsweste und trägt keine Überweisung von der Kreissparkasse in der Hosentasche. Er ist einfach da in seiner stillen Erhabenheit. Manchen macht das Angst, weil der Wolf den normierten Fußgängerzonenalltag durcheinanderbringt.
Der Mensch im Wolfspelz ist 28 Jahre alt und Angestellter der städtischen Verwaltung. Als Kind ist Marcel Ellinger oft umgezogen. Im Schwarzwald wuchs er bei seiner Mutter auf, war an den Wochenenden und in den Ferien bei der Oma im Stuttgarter Osten. Mit 18 zog er für drei Jahre zu seinem Vater nach Nordrhein-Westfalen. Dann bekam er bei der Stadt Esslingen einen Ausbildungsplatz als Verwaltungsfachangestellter.
Nach den Lehrjahren schafft er in der Bibliothek, muss aufpassen, dass alle pünktlich die Gebühren bezahlen. Die Arbeit macht ihm Spaß, die Kollegen findet er nett. Nach Feierabend geht er nach Hause, damals noch in eine kleine Wohnung mitten in Stuttgart, und weiß nicht recht, was er anfangen soll. Die Abende sind lang. Als der Bub Marcel einst mit der Oma vom Fernsehturm hinuntergeschaut hat, stellte er sich vor, wie das wohl wäre, für immer in dieser großen Stadt zu leben. Tun und lassen können, was man will. Jetzt, wo er scheinbar am Ziel seiner Träume ist, passiert nichts Aufregendes, jedenfalls nicht in seinem Leben. Ist er vielleicht am falschen Ort? Und, wenn ja: Wo gehört er hin?
Eines Tages lädt ein Kollege der Esslinger Stadtverwaltung Marcel Ellinger zur Berkheimer Narrenzunft ein: „Bei uns isch was los.“ Ellinger ist sofort begeistert von den Flegga-Kaschber. Er schließt sich der Gruppe an, bastelt ein aufwendiges Kostüm, nennt sich „Der Fasnetsjeck“ und sucht sich eine kleine Wohnung in seiner neuen Heimat Berkheim. Dass er sich in seiner Zeit im Norden ein astreines Hochdeutsch angewöhnt hat, stört die Leute in dem Esslinger Stadtteil nicht lange: „Ich bin mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund mit meinem Kostüm, überall, wo ich während der Fasnet auftauche, jubeln sie.“ Doch nach Aschermittwoch tut sich ein großes Loch auf. Gut, Ellinger hat eine Dauerkarte beim VfB, aber die Stuttgarter Profifußballer haben ja auch nur alle zwei Wochen ein Heimspiel.
Die Kostüme sehen echt aus
An einem dunklen Spätwinterabend surft Ellinger im Internet, schaut sich Videos über Wölfe an. Seit seiner Kindheit begeistern ihn die Raubtiere. Er hat in seiner Wohnung Bücher über Wölfe sowie Stofftiere, Decken, Kissen und Figuren in Wolfsoptik.
In den Rudeln gibt es eine eindeutige Hierarchie und viele Regeln, jeder kennt seine Position. Wie in einer richtigen Familie, denkt Marcel Ellinger: Es gibt einen, der das Sagen und die Verantwortung hat, es gibt die Jäger, die Aufpasser und einen Unterhaltungswolf. Marcel Ellinger fühlt sich für die gute Laune verantwortlich.
Zufällig entdeckt er im Internet einen Film, in dem Menschen in Tierkostümen die Hauptrollen spielen. Er ist fasziniert. Die sehen ja total echt aus, denkt er. Wo bekommt man solche Kostüme? Marcel Ellinger klickt sich durchs Internet und stolpert über den Begriff „Furry“. Übersetzt heißt das „pelzig“. Ellinger erfährt, dass Furries Menschen sind, die sich in ihrer Freizeit als Tiere verkleiden oder Fans von Tierdarstellungen sind. Es gibt viele Gruppen, in denen sie sich austauschen.
Ein Wolfskopf aus Amerika
Marcel Ellinger meldet sich – „zunächst nur so zum Spaß“ – in einem Furry-Forum an. Die Kostüme seien sehr aufwendig herzustellen, erfährt er dort, die Kostümproduzenten in den USA auf Jahre ausgebucht. Marcel Ellinger beschließt, selbst einen Wolfskopf zu bauen. Jemand schreibt ihm, er solle es mit Schaumstoff probieren und Tüll für die Augen, da sieht man durch. Schnell merkt er: Das wird nichts.
Auf Furbuy, einer Art Ebay für Furries, entdeckt Ellinger einen schwarzen Wolfskopf. Den muss er haben. Ein Freund schlägt vor, ihm bei der Ersteigerung zu helfen, man müsse nur nachts um vier aufstehen und mitbieten. Marcel Ellinger ist dabei: „Schlafen konnte ich eh nicht mehr, ich konnte nur noch an den Wolfskopf denken.“
Für 800 Euro erhält er den Zuschlag. Eine Kostümbauerin aus den USA passt die Proportionen so an Marcel Ellingers Kopfmaße an, dass sich das Maul des Wolfs bewegt, wenn er seinen eigenen Unterkiefer bewegt. Die Kostümbauerin schickt das Unikat nach Deutschland. Als Marcel Ellinger seinen Wolfskopf am Stuttgarter Hafen vom Zoll abholt, ist er wie berauscht: „Der Kopf gefiel mir in Echt noch besser als auf den Bildern.“
Fortan fährt er als Berkwolf zu Treffen und Umzügen mit Gleichgesinnten. Manchmal sind es nur 30 Furries, die zusammenkommen, bei der Eurofurence in Berlin diesen Sommer waren es 2500 aus der ganzen Welt. In Esslingen gründet Marcel Ellinger den Verein Südstaaten Furs, in Stuttgart gibt es einen Furry-Stammtisch.
Furries verbindet die Liebe zu Tieren und die Erkenntnis, dass man sich in einem flauschigen Pelz mitunter wohler fühlt als in der eigenen Menschenhaut. Durch das Kostüm ändert sich das Wesen: Die graue Schreibtischmaus verwandelt sich in die edle Gräfin Fuchs. Furries teilen diese Erfahrung mit anderen in den Foren und bei vielen sogenannten Conventions und Walks. In der Gemeinde sind Rechtsanwälte, Hartz-IV-Empfänger, IT-Nerds, Unternehmer, Studenten und viele mehr vereint. „Alle sind hier gleich“, sagt Marcel Ellinger. Furries würden sich auch unkostümiert im Alltag helfen, wenn es Probleme gibt – mit dem verflixten Computerprogramm, mit einem kaputten Auto oder mit der gescheiterten Liebesbeziehung.
Ein Fell, das nicht haart
Wenn sich die flauschigen Freunde treffen, geht es straff organisiert zu. Es gibt Panels und Reden zu verschiedensten Themen: Wie verhalte ich mich im Tierkostüm? Wie pflege ich meinen Suit? Wie lerne ich Tiere zeichnen? Bei den Treffen gibt es oft Tanzwettbewerbe, in Polen ist Marcel Ellinger kürzlich Erster geworden. Für solche Erfolgserlebnisse trainiert er manchmal mitten in der Nacht. Gegen drei verlässt der Berkwolf seine Wohnung und schleicht hinunter in die Garage des Mehrfamilienhauses. Dort ist genügend Platz zum Austoben. Er stellt die Kamera aufs Stativ und filmt sich selbst beim Tanzen auf Tatzen. Mal schauen, wie’s rüberkommt.
Das zum Wolfskopf passende Kostüm hat ihm eine Schneiderin aus dem Stuttgarter Westen genäht. Noch nie habe sie so einen Auftrag erhalten, sagte sie damals. Ellinger hatte das Kunstfell selbst besorgt, eines, das nicht haart, das war ihm wichtig. Nach dem Waschen muss man es gut kämmen, sonst klumpt es. Über Monate fuhr er jeden Freitag nach Stuttgart, um das Outfit anzuprobieren, die Maschinen der Schneiderin liefen heiß.
Die Magie der Verwandlung
Es gibt Menschen, die ihr Tierkostüm im Alltag tragen, die ihr zweites Ich zu ihrem ersten gemacht haben. Ellinger schüttelt den Kopf. „Ich weiß schon, dass ich ein Mensch bin“, sagt er. Doch wenn er sich verwandelt, nimmt er diese Rolle ernst. Er redet dann nicht mehr, und er würde niemals vor anderen den Wolfskopf abnehmen. „Das würde die Magie zerstören“, sagt er.
In seiner Berkheimer Wohnung schläft Marcel Ellinger nur noch unter der Woche. An Wochenenden und in den Ferien ist er als Furry unterwegs – auch bei Conventions in den Niederlanden, den USA und nächstes Jahr erstmals in Japan. Derweil kommt seine Mutter aus dem Schwarzwald und schaut nach den Katzen und den Nymphensittichen. Sie ist stolz auf ihren Sohn, den Berkwolf. Früher war sie im Sommer selbst ein Tier: die Euromaus im Europa-Park Rust.
Alltags trägt Ellinger kein Wolfskostüm, sondern schulterlanges Haar und Turnschuhe. So sitzt er in der Stadtverwaltung und fällt nicht weiter auf. Abends liest er zurzeit ein Buch über tierische Überlebenskunst: Wie schützt sich der Wolf vor dem Menschen?
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