Welche medizinischen Maßnahmen sind bei einer vorgegebenen Symptomatik nicht sinnvoll? In den USA wurden nun Negativlisten erstellt, die Ärzte und Patienten von einem „Zuviel" abhalten sollen. Auch in Deutschland interessiert man sich für diesen Ansatz.
„Es ist nicht sinnvoll, eine Entbindung auf natürliche Weise oder per Kaiserschnitt vor der 39. Schwangerschaftswoche einzuleiten." „Kinder unter vier Jahren sollten keine Erkältungsmittel bekommen." „Entgegen der Gewohnheit vieler Patienten und Ärzte überwiegt bei vielen Behandlungen das Risiko oder gar der Schaden den Nutzen." „Viel hilft viel" und „Teures ist besser". Diese Weisheiten sind unter Patienten immer noch weit verbreitet. Gleichzeitig ergab aber auch eine Befragung unter 18.000 Bürgern für den Gesundheitsmonitor 2011 der Bertelsmann-Stiftung ein düsteres Bild für die selbständigen Ärzte: 90 Prozent der Teilnehmer glauben, dass ambulant tätige Mediziner unnötige und überflüssige Leistungen erbringen, zum Teil sehr oft.
700 Milliarden Dollar „Waste"Unbestritten ist, dass sich Milliardensummen im Gesundheitswesen einsparen ließen, würden sich Patient und Arzt auf das Notwendige und Sinnvolle beschränken. Das gilt für Deutschland, aber ganz besonders auch für die USA. Für rund 700 Milliarden Dollar wird auch dort medizinischer „Waste" produziert. Ein Drittel der Leistungen sind unnötig, ein Sechstel ungenügend ausgeführt, so sagt es eine Statistik, ein Viertel der Verordnungen sind mit allzu großem Verwaltungsaufwand verbunden. Immer drängender wird daher auch dort die Forderung nach partizipativen Entscheidungen gestellt - nach gemeinsamer Beratung von Arzt und Patient. Alternativen zu gewohnten, teuren oder mit vielen Tests verbundenen Behandlungen zu erklären und dann auch anzuwenden, würde die Kosten deutlich senken.
135 mal „Do not..."„Choosing Wisely" ist eine gemeinsame Initiative eines großen Verbraucherverbands (Consumer Reports) und des ABIM, American Board of Internal Medicine, einer Non-Profit-Organisation zur Förderung medizinischer Professionalität. Inzwischen haben sich 42 Fachgesellschaften der verschiedenen Medizinspezialiäten der Aktion angeschlossen. Vor etwa einem Jahr veranlasste Initiator Howard Brody die assoziierten Organisationen, jeweils fünf Tests oder Behandlungsmittel zu benennen, die - unnötig verordnet - dem Patienten schaden und meist noch erhöhte Kosten verursachen. Wenn ein Test zur Absicherung einer Diagnose zur Verfügung steht, zögern viele Ärzte nicht, ihn zu verordnen - häufig auch bei asymptomatischen Patienten, bei denen keine Veranlassung auf die entsprechende Krankheit hinter der Untersuchung besteht. Bis zum Frühjahr dieses Jahres ist diese Liste inzwischen auf beeindruckende 135 Punkte angewachsen.
Bei einer kurzen Bewusstlosigkeit ist weder ein CT noch eine Kernspin-Aufnahme nötig. Bei Kindern mit leichteren Kopfverletzungen sollte der Kopf nur dann durchleuchtet werde, wenn das unbedingt notwendig ist. Ein Belastungs-EKG ist bei Patienten ohne Beschwerden und geringem Risiko für eine Herzkrankheit unnötig. Diese und viele weitere Empfehlungen sind inzwischen sowohl für Arzt als auch für den Behandelten mit den entsprechenden Hintergrundinformationen auf „ Choosingwisely.org " abrufbar. Die Initiatoren hatten wohl selbst nicht mit einer solch großen Resonanz auf ihren Anlauf gerechnet, der auch dazu dienen sollte, die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu verbessern und die Diskussion über notwendige und überflüssige Therapien anzustoßen. Schon in der Vorbereitung von „Choosing Wisely" hatte eine Analyse der National Physicians Alliance im Jahr 2011 eine Ersparnis von rund 5 Milliarden Dollar bei solchen „Top5" Listen ergeben.
Reichen Leitlinien aus?Dieser Erfolg bei der Ärzte-(und Patienten-)Beratung hat sich inzwischen auch über den Atlantik hinweg herumgesprochen. Könnte „Choosing Wisely Deutschland" auch bei uns zu einem Erfolgsmodell ganz im Sinne der Krankenkassen, aber auch der Patienten werden? Oder ist das bloß „Alter Wein in alten Schläuchen", weil Deutschland mit seiner Strategie mit Leitlinien für die Behandlung vieler Krankheiten häufiger schon weiter als die USA ist? Auf einem Workshop im Vorfeld der Jahrestagung des Netzwerks evidenzbasierter Medizin diskutierten darüber im März dieses Jahres renommierte Experten verschiedener Fachrichtungen.
Günter Ollenschläger, Leiter des ÄZQ (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin) berichtete von einer Untersuchung, in der seine Kollegen ärztliche Leitlinien auf negative Empfehlungen (Dont's) untersuchten. Je nach Fachrichtung ist der Anteil solcher Ratschläge für das Weglassen von Maßnahmen ganz unterschiedlich. Viele Hinweise auf Unnötiges oder Schädliches finden sich bei der Behandlung von unspezifischen Kreuzschmerzen oder bei der Hormontherapie in der Menopause. Dagegen gibt es kaum Maßnahmen, von denen die Autoren bei den Leitlinien für rheumatoide Arthritis oder juvenilem Diabetes abraten. Ähnlich wie beim amerikanischen „Choosing Wisely" empfiehlt die Deutsche Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz keine bildgebenden Maßnahmen bei akuten Beschwerden ohne Hinweise auf gefährliche Komplikationen. Insgesamt, so schließt Ollenschläger in seinem Vortrag, sind Empfehlungen gegen bestimmte Therapien oder Medikamente bereits oft in den Deutschen Leitlinien integriert.
Priorisierung ohne Rationierung?Vielfach wurde bei der Diskussion auch kritisiert, dass die Empfehlungen von „Choosing Wisely" zum Teil uneinheitlich und intransparent seien. So basieren etwa die fünf Punkte der amerikanischen Kollegen von der klinischen Onkologie auf einer Literatursuche und einer anschließenden Expertendiskussion mit onkologischen Verbänden, Selbsthilfegruppen und führenden Ärzten. Schließlich verabschiedete ein Ausschuss der ASCO die Ratschläge. Dagegen beschlossen bei den Radiologen „führende Ärzte" und die Vorstände verschiedener Fachbereiche ihre „Top5-Liste" ohne externe Beratung. Unbeantwortet ist auch die Frage, ob die übrigen Handlungsempfehlungen für Ärzte in den „Guidelines" gleich wichtig sind, oder ob nicht eine „Priorisierung ohne Rationierung" der bessere Weg wäre, um einen begrenzten Gesundheitsetat optimal zu nutzen.
Dennoch, so meint etwa auch Heiner Raspe, Bevölkerungsmediziner an der Universität Lübeck, würde er eine deutsche „Choosing Wisely"-Initiative durchaus unterstützen. Eine Ansicht, die auch von Medizinern in Deutschlands Nachbarschaft geteilt wird. „Die Liste gibt Ärzten und Patienten den nötigen Mut, auch einmal etwas nicht zu tun", pflichtet der Berner Drahomir Aujestik vom Verband der schweizerischen Internisten seinem Kollegen bei.
Keine Zeit für ausführliche ErklärungenIn der Praxis stehen aber oft alte Gewohnheiten neuen Empfehlungen entgegen. So untersuchte etwa Craig Pollack von der Johns Hopkins University in Baltimore, wie sich das Verhalten von Ärzten nach der negativen Beurteilung des PSA-Tests bei Untersuchung der Prostata verändert hatte. Allein 38 Prozent der befragten Ärzte würden ihre bisherigen Gewohnheiten nicht ändern und den PSA-Test weiterhin verschreiben. Nur zwei Prozent waren bereit, den Empfehlungen bedingungslos zu folgen. Hauptgründe für die ablehnenden Antworten der Ärzte war die Pflicht zur Rechtfertigung ihres geänderten Verhaltens vor dem Patienten und die mangelnde Zeit, ihm die neue Strategie zu erklären.
Auf der Patientenseite ist sehr häufig auch das Vertrauen in den eigenen Arzt größer als in die Ratschläge diverser Fachgesellschaften. Aber selbst auf Arztseite ist die Unkenntnis und zuweilen auch das Misstrauen gegenüber Kontrollinstanzen wie dem IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) oder dem Gemeinsamen Bundesausschuss groß, wie der stellvertretende DNEbM-Vorsitzende Daniel Strech in einem Referat bei der Jahrestagung des IQWiG anhand einer Umfrage beschrieb.
„Shared Decision": Gemeinsame Entscheidung von Arzt und Patient„Informierte Patienten entscheiden anders." So plädierte David Klemperer von der Hochschule Regensburg für das Modell „Shared Decision", das auch die Basis der „Choosing Wisely"-Bewegung bildet. Dazu braucht es bei den Ärzten aber nicht nur Verständnis für Behandlungsleitlinien, Do's und Dont's, sondern auch mehr Zuwendung und Zeit für den Patienten. Es sollte für sie eigentlich selbstverständlich sein, ihre Schützlinge über die Grundlage ihrer Behandlungsvorschläge aufzuklären. Das tun aber, entsprechend der Befragung von Klemperer und seiner Kollegin Diercks für den Gesundheitsmonitor 2011, nur wenige Ärzte. Und noch weniger Patienten sind es, die ihren Arzt nach entsprechenden Richtlinien fragen.
Nach den Vorstellungen des Netzwerks evidenzbasierte Medizin soll „Choosing Wisely" auch bei uns populär werden - auch wenn die Leitlinien-Verfasser schon wichtige Vorarbeit geleistet haben. Die Ergebnisse des Workshops sollen dabei Wegweiser für das weitere Vorgehen sein. Bei allem Fleiß für die Erstellung von Leitlinien aufgrund von Studienergebnissen könnten „Unterlassungslisten" dazu führen, das Bewusstsein bei Ärzten wie bei Patienten zu verändern. Nicht immer ist ein „Mehr" und ein „Teurer" die bessere Alternative.