Doch genau diese Nähe hat auch ihre Schattenseiten, wie zuletzt am gestrigen Schlussaufstieg nach Alpe d’Huez Vincenzo Nibali schmerzlich erfahren musste. Der Italiener kam etwa vier Kilometer vor dem Etappenziel zu Fall, als er sich bei schlechter Sicht, für die abgebrannte Bengalos verantwortlich waren, mit dem Lenker in einem schwarzen Band – möglicherweise der Umhängeschlaufe einer Kamera – verfing und hart zu Boden ging. Sichtlich benommen und unter starken Schmerzen stieg der "Hai von Messina“ wieder auf sein Rad und hielt den Zeitrückstand mit 13 Sekunden in Grenzen. Doch am Abend kam dann die schlechte Nachricht: Wirbelbruch und damit das Tour-Aus.
Zudem wurde auch Chris Froome Opfer eines Fans, dessen "Anschiebintention“ aufgrund der harschen Art und Weise nicht zwangsweise Freundlichkeit unterstellt werden kann. Vor allem der nach wie vor zweifelhafte Salbutamolfall des Briten ließ befürchten, dass sich der viermalige Toursieger am „Berg der Holländer“ einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen würde und die Zielscheibe einiger Verrückter sein könnte – Körper- und auch Bodenkontakt nicht ausgeschlossen.
In Anbetracht dieser Ereignisse stellt sich die Frage: Ist ein Anstieg wie der nach Alpe d’Huez noch zeitgemäß, wenn die Sicherheit der Fahrer nicht mehr gewährleistet werden kann?
Alpe d’Huez genießt Kultstatus – obwohl der Berg mit 13,8 Kilometern und durchschnittlich acht Prozent Steigung nicht zu den schwersten Hindernissen zählt, die Frankreich zu bieten hat. Doch die 21 Haarnadelkurven, alle nach ehemaligen Siegern benannt, sowie tourhistorische Etappen wie beispielsweise die von 1986, als die Teamkollegen Bernhard Hinault und Greg LeMond Hand in Hand den Doppelsieg bejubelten, machen diesen Anstieg besonders und legendär. Nicht umsonst träumt wohl jeder Radprofi davon, einmal in Alpe d’Huez zu gewinnen. Und auch auf Amateure und Radtouristen hat der Anstieg auf 1850 Meter Höhe eine besondere Anziehungskraft.
Doch der Berg hat in Sachen „Fan-Ausschreitungen“ eine Vorgeschichte mit
mehreren Kapiteln. Im Jahr 1999 sah Giuseppe Guerini schon wie der
sichere Sieger aus, ehe ein Fan vor dem Telekom-Profi auf die Straße
sprang, Guerini fotografieren wollte und so zu Fall brachte. Beim
Bergzeitfahren im Jahr 2004 standen die Massen dermaßen dichtgedrängt,
dass die Fahrer hinter den Motorrädern die Straße nur erahnen konnten.
2011 schließlich schlug Alberto Contador einem Fan ins Gesicht, der ihm
mit einem Stethoskop auf den Leib rückte. Eine Strafe gegen Contador
bliebt damals aus – wohl auch deshalb, weil man den Vorfall als Notwehr
einstufen musste, um einem Sturz zu entgehen.
Es ist vermutlich die Kombination aus Fanatismus, Alkohol und Hitze, die
vor allem am Anstieg nach Alpe d’Huez immer wieder die hässliche Seite
einiger Anhänger ans Tageslicht bringt. Einige harren stunden- oder gar
tagelang aus, bis sich die angestaute Vorfreude in wenige Sekunden
völliger Ekstase entlädt. Die Organisatoren haben das erkannt und in
diesem Jahr unter anderem die berühmte Kurve der Holländer mit einem
Seil "abgesperrt“. Fans konnten so ihren Idolen nah sein, dennoch war
zumindest an diesem Streckenpunkt die Sicherheit der Radprofis
gewährleistet.
Zwar erscheint eine Vollabsperrung, wie sie oft auf den letzten
Kilometern per Gittern vollzogen wird, angebracht. Doch einen Anstieg
von rund 14 Kilometern Länge so zu sichern, ist logistisch eine
Mammutaufgabe und kostet Geld – Geld, das in anderen Bereichen des
Rennens dringend gebraucht wird. Doch nicht immer kann man die
Zwischenfälle auf den Alkohol zurückführen. Bei der Flandern-Rundfahrt
beispielsweise wird von einigen Fans ebenfalls literweise Alkoholisches
konsumiert – schwere Stürze aufgrund von undisziplinierten Anhängern
waren in der jüngsten Vergangenheit jedoch nicht zu beobachten.
Das Problem ist ein anderes: Ein Radrennen ist eine offene Veranstaltung. Jeder kann sich an die Strecke stellen und mit sich führen, was er möchte – Einlasskontrollen wie beim Fußball gibt es schließlich nicht. An einem Tag wie gestern, an dem von offizieller Stelle etwa 400.000 Zuschauer allein am Schlussaufstieg geschätzt wurden, sind Taschenkontrollen logistisch überhaupt nicht umsetzbar.
So kam es dann auch, dass jene Rauchschwaden gezündet wurden, die die
Sicht so sehr einschränkten, dass sich Vincenzo Nibali zu nah an die
Zuschauer begab. Der Italiener stürzte zwar nicht direkt aufgrund
selbstverliebter Fans - doch der Rauch, der dem Toursieger von 2014 die
Sicht nahm, ist auf das übermäßige Spektakel einiger Übermütiger
zurückzuführen. Zwar standen zahlreiche Gendarmen am Straßenrand, um das
Publikum zurückzuhalten. Doch Bilder, auf denen Zuschauer wild neben
den Fahrern herrennen, dabei straucheln und beinahe das Rennen
beeinflussen gibt es viel zu häufig zu sehen - nicht nur in Alpe d'Huez.
Es liegt also an den Fans, sich ihren Sport nicht durch ihr Verhalten zu verderben. Jeder Einzelne ist für sein Handeln verantwortlich und jeder kann auch seinem Idol moralische Unterstützung zukommen lassen. Lautes Jubeln, Klatschen oder Anfeuerungsrufe werden auch von den Profis immer wieder gern wahrgenommen. Und auch laute Buh-Rufe sind in gewisser Weise in Ordnung – schließlich fällt das unter die Kategorie Meinungsfreiheit.
Einige Unverbesserliche wird es jedoch immer geben. Es ist auch ein
bisschen wie mit den Flitzern im Fußball – werden sie von den Kameras
gezeigt, stiftet das zur Nachahmung an. Einige legen es regelrecht
darauf an, einmal im Fernsehen ihren großen Auftritt zu haben, und sei
es auf unrühmliche Art und Weise. Ein Gentlemen-Agreement, wie dass
keine Fahrer beim Verrichten der Notdurft gefilmt werden, sollte auch
für das Zeigen von Selbstdarstellern am Streckenrand gelten. Anstiege
wie Alpe d’Huez jedenfalls gehören zur Tour de France wie das Gelbe
Trikot dem Gesamtführenden.