"Mami, töte mich nicht", schallt es von der Straße ins Wartezimmer: Wie Abtreibungsgegner in den USA den Weg zur Klinik für Schwangere in einen Spießroutenlauf verwandeln.
Elisa von Hof
Als morgens die erste Patientin über die von Schlaglöchern vernarbte Straße fährt, warten bereits drei Dutzend Abtreibungsgegner vor dem Klinikeingang. Familien mit Babys stehen dort, Kleinkinder und Teenager laufen in Warnwesten herum. Sie warten darauf, dass sich ein Auto nähert. Ein Auto mit einer schwangeren Frau, die - so sehen es die Wartenden - plant, einen Mord zu begehen. Sie wollen die Schwangere zur Umkehr bewegen.
Eine junge Frau im dunkelroten Honda fährt in der Morgensonne an der Klinik vorbei, langsam, sie sucht einen Parkplatz. Zwei Mädchen laufen hinterher. Als das Auto am Straßenrand zum Stehen kommt, bauen sich die Teenager vor der Fahrertür auf und stemmen die Fäuste in die Hüften. Doch die Frau steigt nicht aus. Sie schaut die Mädchen an, mit ängstlichem Gesicht. "Sie werden gleich dein Kind töten", sagt eine der beiden.
Einige Minuten später, als die Frau dann doch aussteigt und zur Klinik geht, Handy und Portemonnaie an die Brust gedrückt wie auf der Flucht, sagt sie: "Ich habe mich von den Mädchen bedroht gefühlt."
Wer in Jackson, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Mississippi, einen Tag an der Abtreibungsklinik Jackson Women's Health verbringt, kann sehen, wie erbittert die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche in den USA geführt wird. Mississippi ist etwa so groß wie Österreich und die Schweiz zusammen. Aber der pink gestrichene Bungalow ist seit 2004 die einzige Einrichtung im ganzen Staat, in der diese Eingriffe durchgeführt werden. Und das auch nur an zweieinhalb Tagen die Woche. Häufiger geht nicht: Ärztemangel.
In keinem Staat der USA ist es bisher so schwierig abzutreiben wie in Mississippi. Nicht bloß, weil Abtreibungsgegner den Weg zur Klinik für Schwangere in einen Spießrutenlauf verwandeln. Wer hier einen Termin ergattert - schon das ist nicht einfach -, muss weitere Hürden überspringen: sich frei nehmen, teilweise stundenlang fahren, 600 Dollar auftreiben. So viel kostet eine Abtreibung hier mindestens.
Gesetze des Bundesstaates schreiben Frauen zudem vor, den Weg gleich zweimal anzutreten: erst zur Beratung, und dann, mindestens 24 Stunden später, zur eigentlichen Abtreibung. Ärzte müssen die Frauen zudem warnen, dass ein Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsabbrüchen und Brustkrebs besteht, auch wenn dieser nicht erwiesen ist.
Seit Donald Trump erklärte, für den Schutz ungeborenen Lebens einzutreten, eskaliert der Streit um Schwangerschaftsabbrüche in den USA: Bis Ende Juni wurden allein in diesem Jahr in 19 Bundesstaaten 58 Restriktionen für Abtreibungen erlassen. Darunter sind Gesetze, die Abtreibungen in zwölf Staaten fast unmöglich machen. In Mississippi hat Gouverneur Phil Bryant das sogenannte "Herzschlag-Gesetz" unterschrieben. Zwar ist es mittlerweile vom Bundesrichter gekippt worden, doch die Abtreibungsgegner wollen sich damit nicht zufrieden geben.
Das Gesetz untersagt Schwangerschaftsabbrüche, sobald der Herzschlag des Embryos zu hören ist. Das ist meist in der sechsten Woche der Schwangerschaft der Fall. Nur wissen viele Frauen zu diesem Zeitpunkt nicht mal, dass sie schwanger sind. "Wenn man Abtreibungen ab diesem Zeitpunkt verbietet, verbietet man sie nahezu komplett", sagt die Politikexpertin Elizabeth Nash, die Abtreibungsrestriktionen für das Guttmacher-Institut in Washington, D. C., analysiert, eine US-amerikanische Non-Profit-Organisation.
Eigentlich ist es in den USA legal abzutreiben - doch jeder Bundesstaat kann Zusatzregelungen erlassen. Das entschied der Oberste Gerichtshof im Jahr 1973. Immer wieder haben einzelne Staaten versucht, das Urteil zu brechen. Das könnte nun funktionieren. Mit der umstrittenen Ernennung des Richters Brett Kavanaugh ist der Supreme Court konservativ wie nie. Das wissen Abtreibungsgegner. "Sie hoffen, eines der scharfen Abtreibungsgesetze aus einem Bundesstaat bis in den Supreme Court zu tragen", sagt Nash. "Wenn das passiert, könnte die Legalisierung von Abtreibungen gekippt werden."
"Hoffentlich klappt das", sagt Coleman Boyd. Er schaut auf den Eingang der Klinik in Mississippi, schiebt seine rote Mütze mit dem zeigefingergroßen Kreuz die Stirn hoch und fragt: "Oder würden Sie etwa Ihr Kind umbringen?" Wie häufig Boyd schon hierhergefahren ist - 45 Minuten hin und 45 wieder zurück, im Van Megafon, Plakate so groß wie Küchentische, Bibel und zwölf Kinder, das jüngste drei Monate alt - das weiß er nicht mehr genau. Der Protest ist für ihn zum Job geworden, und an den sind Familienleben und Heimunterricht so angepasst, dass alle mitkommen können. Auch sein Bruder macht das so. Wenn sich die Boyds morgens auf dem Gehsteig vor der Klinik begrüßen, haben sie zwei Fußballmannschaften Protest dabei. Und die Liebe zu Jesus, mit der sie alles rechtfertigen.
"Viele Frauen brechen in Tränen aus", sagt Betty Thompson. Seit 25 Jahren berät sie Schwangere in der Jackson Women's Health. Der Protest der Abtreibungsgegner sei immer drastischer geworden, sagt sie und erzählt, dass neulich das Mantra "Mami, töte mich nicht" in Disco-Lautstärke über eine Stereoanlage bis ins Wartezimmer der Klinik geschallt sei. "Damit kann man keine Frau, die bereits hier ist, von ihrer Entscheidung abbringen", sagt sie, "aber es lässt sie Scham und Schuld fühlen und ängstigt sehr." Seitdem das Herzschlag-Gesetz verabschiedet worden ist, rufen Frauen jeden Tag in Sorge bei ihr an, gar nicht mehr abtreiben zu können.
Auch den Ärzten macht das zu schaffen. Weil sie bis vor ihre Haustür verfolgt und bedroht wurden, arbeitet seit einigen Jahren kein Arzt aus Mississippi mehr in der Klinik. Wer hier Schwangerschaftsabbrüche durchführt, kommt zum Beispiel aus Chicago oder Massachusetts. Seinen Namen in der Zeitung lesen, das möchte keiner der Ärzte. Videos zeigen, wie sie in der Mittagspause auf dem Weg zum nächsten Café von Abtreibungsgegnern verfolgt werden. Wo sie in Jackson wohnen, verrät niemand. Auch der Weg, auf dem sie zur Arbeit gelangen, bleibt ein Geheimnis.
Es ist Mittag, vor der Klinik warten immer noch die Abtreibungsgegner. "Madam, das Baby ist kein Fehler, es ist nach dem Bild Gottes geschaffen", ruft jetzt eine Frau einer Patientin entgegen. Vor dem Eingang der Klinik bleibt sie abrupt stehen, das Grundstück der Jackson Women's Health darf sie nicht betreten. Dafür sorgen ein Wachmann - Sonnenbrille, Schusswaffe, Springerstiefel - und etwa sieben Ehrenamtliche in regenbogenfarbenen Westen, die "Clinic Escorts". Sie begleiten die Frauen vom Auto bis zur Kliniktür. "Die Frauen sollen sich schlecht fühlen", sagt Boyd, der jetzt wieder sein Megafon an die Lippen hält. Wer ihn googelt, erfährt, dass er Allgemeinmediziner ist. Geld verdient er allerdings auch als Hundezüchter und Farmer. Er beugt sich nach vorn, an den Zaun der Klinik. Der ist mit schwarzer Pappe gespickt, damit die Patientinnen den Protest zumindest von drinnen nicht sehen müssen. Hören tun sie ihn ja doch.
Auch wenn Betty Thompson und ihre Kolleginnen die Frauen am Telefon vorab warnen, was vor der Tür los sei, sind die meisten erschrocken. Von den Abtreibungsgegnern, die sie verfolgen; von den verstümmelten Babys auf den Bildern, von Plakaten, auf denen Sätze stehen wie "Feminismus ermutigt Frauen, ihre Männer zu verlassen und Babys umzubringen, Hexerei zu betreiben und lesbisch zu werden"; von den Bibeln und Broschüren mit dem Gesicht Adolf Hitlers darauf.
Manche Frauen reißen sich zusammen, bis sie die verspiegelte Tür des Wartezimmers erreichen, sagt Thompson. Und dann haben die Mitarbeiterinnen Mühe, sie wieder zu beruhigen. Wenn das nicht klappt, wird der Termin verschoben. Und die Schwangere muss den Weg nach Jackson noch einmal antreten.
Eine der letzten Patientinnen für heute tritt aus der Klinik in die Nachmittagshitze und geht langsam zu ihrem Auto. Sie hat bereits zwei Kinder, die zu Hause auf sie warten. Ein drittes möchte sie nicht. Eine der Abtreibungsgegnerinnen folgt ihr. "Ihr Kind hat schon eine Identität. Es umzubringen, bedeutet ein Leben zu nehmen, das Gott bereits gegeben hat", sagt sie. Die Patientin bleibt stehen und schaut die 21-jährige Demonstrantin mit festem Blick an: "Ich bin eine 35-jährige Frau. Was lässt dich glauben, dass du meine Meinung ändern könntest?", fragt sie, bekommt aber nur den nächsten Vorwurf zu hören: "Die Wahrheit ist, dass Sie ein Baby in sich tragen, und es wird sterben, wenn Sie sich dazu entscheiden, es hier umzubringen." "Richtig", sagt die Frau, ihre Haare fallen über ihre Schultern. "Fühle ich mich deshalb schlecht? Nein. Und das ist meine Entscheidung."