Jeder Satz abgeschält bis auf den Kern: In Gianna Molinaris
Debütroman "Hier ist noch alles möglich" wird eine Kartonfabrik
abgewickelt. Ein Wolf taucht auf - erobert die Natur sich den Raum
zurück?
Elisa von Hof
Vielleicht ist das alles nie passiert. Die Fabrik, der Bankraub, die Nächte, der Wolf. Vielleicht gibt es nicht mal sie, die namenlose Protagonistin. Vielleicht ist ihre Geschichte nur ein Traum, der sich in die diffusen Minuten zwischen Tag und Nacht schiebt und verfliegt, sobald der Wecker schrillt.
Denn ihre Welt beschreibt die Erzählerin so präzise, dass ihre Wirklichkeit unwirklich wird. Sie klammert sich an eine einfache Sprache, weil in ihr der Konjunktiv tobt - bis die Grenzen zwischen ihrer Welt und der äußeren durchlässig werden, bis das "Was wäre wenn" in die Realität hinüberschwappt. Und damit auch in ihre Geschichte.
"Hier ist noch alles möglich" heißt die. Im vergangenen Jahr hat Gianna Molinari mit einem Auszug daraus den 3sat-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs gewonnen. In diesem Jahr hat es der zum Roman angeschwollene Text der Schweizerin auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft.
Eigentlich passiert darin nicht viel: Die Ich-Erzählerin beginnt einen neuen Job als Nachtwächterin einer Kartonfabrik am Stadtrand einer namenlosen Stadt. Die Fabrik soll bald schließen, ihr Verfall zeigt sich schon in den Löchern im Zaun, die niemand mehr reparieren will. Durch die ist allerdings anscheinend ein Wolf geschlüpft. Sein Fahndungsfoto hängt im Gebäude aus.
Die Erzählerin wird neugierig. Sie will ihn aufspüren. "Vielleicht", schreibt sie, "verleiht der Wolf meiner Tätigkeit eine Wichtigkeit." Der Wolf wird zum Motor ihres Daseins, die Suche nach ihm zu ihrem Halt. Nachts streift sie um die verwaiste Fabrik und beobachtet die Überwachungskameras, tagsüber sucht sie seine Spuren. Doch das Tier bleibt unsichtbar und genauso rätselhaft wie seine Entdeckerin.
Sollbruchstelle zwischen Zivilisation und Wildnis
Die nimmt sich vor, "nicht an einem Ort zu verharren, mich nicht festzulegen, mich nicht an einen Lebenslauf zu halten, nicht Teil von einer einzigen Geschichte zu sein, wenn überhaupt, dann von vielen Geschichten zugleich." So wie der Wolf also, der als Fabelwesen in "Rotkäppchen" für Ärger sorgt und bei den "Sieben Geißlein", der in der römischen Gründungssage Romulus und Remus großzieht.
Der Wolf scheint auch in Literatur und Film der Gegenwart Konjunktur zu haben: Ronald Schimmelpfennig ließ ihn in "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" durch einsame Welten streifen, Nicolette Krebitz inszenierte mit dem Film "Wild" im vergangenen Jahr die absolute Grenzerfahrung, die Liebe zwischen einem Wolf und einer jungen Frau. Was in Krebitz' Film die betongraue Hochhaussiedlung ist, die Sollbruchstelle zwischen Zivilisation und Wildnis, an der sich die beiden begegnen, das ist bei Molinari diese Fabrik, die es schon bald nicht mehr geben wird.
Ein Nichtort, irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft stecken geblieben. Diese triste Welt wird von Molinaris unprätentiöser Sprache aufgefangen: frei von Fremdwörtern, Nebensatzkonstruktionen, Zierrat und Flitter. Molinari hat jeden Satz bis auf seinen Kern abgeschält. Die 30-Jährige entwickelt einen so einzigartigen Sound, dass man weiterlesen muss. Vielleicht auch, weil sie nie den Wolf zur Hauptfigur macht - so wie die Märchen verfahren - sondern stets der jungen Frau folgt.
Die hat, das erfährt der Leser nach und nach, vor der Arbeit als Nachtwächterin alle Spuren von sich getilgt: Job verlassen, Möbel verkauft, Verträge gekündigt, Konten aufgelöst. Familie oder Freunde werden nicht erwähnt - ihre Welt ist nur diese Fabrik und die wenigen Menschen, die dort ebenfalls arbeiten. "Ich habe mich an das Leben in einem Rechteck gewöhnt. Wenn einer mir sagen würde, dass die Welt ein Rechteck sei, dann würde ich das gerne glauben."
Der Zweifel ziept und quält
Solche Dinge darf man ihr jedoch nicht glauben. Viel zu sehr liebt sie den Zweifel, die vage Möglichkeit, dass diese Realität nur eine von vielen ist. Als ihre Kollegen sie verdächtigen, eine Bank überfallen zu haben - das Phantombild der Täterin sieht ihr ähnlich - kann sie den Verdacht nicht so ganz zerstreuen. Sogar der Leser fragt sich, ob sie etwas verbirgt. Warum ist sie ausgerechnet hierher gekommen? "Es gefällt mir hier", antwortet sie, als ein Kollege sie das fragt. "Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich." Sogar die Begegnung mit einem Wolf.
Protagonistinnen, die wenig von sich mitteilen, sind gefährlich: Man kann sich mit ihnen schwer identifizieren. Mit der fehlenden Bindung an sie kippt häufig auch die zum Roman. Das ist bei Molinaris Debütroman anders. Das "Was wäre wenn" sickert aus dem Kopf der Erzählerin in den des Lesers. Dort ziept er und quält, dieser Zweifel.
Vielleicht, weil man mehr erfahren will über sie und ihre Welt. Vielleicht, weil man spürt, dass da noch etwas kommt. Diese Ahnung versteckt sich zwischen den Zeilen wie der Wolf im Geäst. Bis zum Ende. Und der Wolf sich endlich zeigt. Oder, zaudert man selbst, ist das auch nur ein Tagtraum, der die Leere der Fabrik für einen Moment füllt?
"Hier ist noch alles möglich" steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Lesen Sie weitere Rezensionen nominierter Romane: "Sechs Koffer" von Maxim Biller, "Bungalow" von Helene Hegemann, "Jahre später" von Angelika Klüssendorf, "Archipel" von Inger-Maria Mahlke, "Hysteria" von Eckhart Nickel, "Dunkle Zahlen" von Matthias Senkel, sowie ein Interview mit der Autorin von "Die Katze und der General", Nino Haratischwili.
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