Deutscher Buchpreis
Eigentlich ist das Theater ihre Heimat, jetzt ist Sasha Marianna Salzmann mit ihrem ersten Roman für den Buchpreis nominiert.
Elisa von Hof
Eigentlich wollte sie ja einen ganz anderen Roman schreiben. Einen über die Proteste in Istanbul, über die Demokratiekämpfer im Gezi-Park, unter denen war sie nämlich selbst, vor fünf Jahren war das und Sasha Marianna Salzmann war glücklich. Vielleicht so sehr, wie noch nie in ihrem Leben. Zumindest glaubt man ihr das, wenn sie über diese Zeit spricht und über diese Stadt. "Istanbul ist wie eine Frau, die ich liebe. Es ist eine große, tiefe Liebe", sagt sie dann und versteckt eine Hand in ihren Locken. Als Sasha Marianna Salzmann sich also an ihren Schreibtisch setzt und zu schreiben beginnt, Wörter rieseln auf Papier, entsteht da eine andere Geschichte. "Ich schreibe doch jetzt nichts über eine jüdische Familie", denkt sich Salzmann, aber da ist es bereits zu spät. Tja, die Figuren sind da - "sind das viele!" - und die gehen nicht mehr weg. Und deswegen schreibt Salzmann weiter, über diese Familie, über Istanbul, über Identitätskämpfe und die Hilflosigkeit, mit der man manchmal dabei zusieht, wie ein Mensch verschwindet, der nicht gehalten werden will. "Außer sich" nennt sie ihren Debütroman. Mit dem ist die Berlinerin nun auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangt.
Auch wenn das ihr literarisches Debüt ist, das mit dem Schreiben, das ist für Salzmann nichts Neues. Seit 2013 ist sie Hausautorin des Maxim-Gorki Theaters, hat szenisches Schreiben an der Universität der Künste studiert, hat für ihr Abschlussstück "Muttersprache Mameloschn", das am Deutschen Theater zu sehen ist, den Kleist-Förderpreis gewonnen, gibt mittlerweile selbst Schreibkurse. Und dennoch, an diesem Buch zu sitzen, das fühlt sich anders an. Heiner Müller habe ja mal gesagt, erzählt sie, Prosa schreibe man im Sitzen, Dramatik im Laufen. Und sie, hat sie immer gedacht, sei nicht so der Sitztyp. Auch bei diesem Buch. "Ich war nie davon überzeugt, dass es das ist, was ich sagen will. Dass ich den Punkt gefunden habe. Bis meine Lektorin gesagt hat: Jetzt reicht's", sagt die 32-Jährige. Vielleicht ist sie ja doch der Sitztyp. Denn sie hatte ja längst gefunden, was sie erzählen will. Die Geschichte von Ali.
"Ach, so ist das?", denkt sie häufig, zieht die Augenbrauen hoch, wenn Ali sie durch Istanbul zieht. Salzmann dockt sich an ihre Figuren an, als entwickelten die ein Eigenleben, als würden sie zu Menschen. Und das sind sie ja auch, zumindest für die Autorin, zumindest für die Zeit des Schreibens, in Istanbul. Dort sucht Ali nach ihrem Zwillingsbruder Anton, der plötzlich verschwunden ist. Alles, was er ihr hinterlässt, ist diese eine Postkarte. Klar, aus Istanbul. Also reist Ali hinterher, in diese fremde Stadt, wie Salzmann. Sie verschwindet zwischen diesen Gassen und den Sofapolstern von Onkel Cemal. Der Verlust ihres Bruders zerfrisst sie wie die Wanzen in der Couch.
Nach und nach erfährt man, was die beiden so eng aneinandergeknüpft hat. Dass es die Familiengeschichte ist, die Emigration von Moskau nach Deutschland, der Verlust der Heimat, das Hundeleben im Asylwohnheim, die Hänseleien der deutschen Mitschüler, "Russki, Russki, ficki ficki". Dass diese Zwillinge einander immer Halt gaben, wenn alles andere zerbarst. Bis jetzt. Salzmann schickt Ali auf eine Reise, an deren Ende nicht der verlorene Bruder wartet, sondern ein verlorenes Geschlecht. Denn Ali entscheidet sich, Testosteron zu nehmen, endlich das zu sein, was sie wohl schon immer sein wollte: ein Junge. Salzmann gelingt es, das einzuweben in ein Generationenporträt. Man reist gemeinsam zurück zu Großeltern und Eltern, sieht zu, wie die sich lieben und hassen lernen. Wie Wörter zwischen ihnen auf den Linoleumboden fallen, dort liegen bleiben wie verrottendes Herbstlaub.
Diese Generationsgeschichten, das hat sie ja bereits in "Muttersprache Mameloschn" gezeigt, die liegen ihr. Die hüllt sie so behutsam in Wörter, in frische Metaphern, dass jede Figur menschlich erscheint, selbst der trinkende Vater, selbst die schimpfende Muter. Vielleicht fällt ihr das so leicht, weil Salzmann eine Sprachwandlerin ist, so wie Ali. Russisch, Jiddisch, Deutsch, Englisch, Türkisch spricht sie, schöpft aus der einen, was sie in der anderen Sprache nicht findet. So wie Ali ist sie in Moskau aufgewachsen und mit zehn Jahren nach Deutschland emigriert, mit Koffern voller Bücher. "Meine Mutter hat mich mit Büchern gefüttert wie mit Muttermilch", sagt sie und grinst. Bücher, die waren ihr Schatz. Das, was sie miteinander geteilt, das, womit sie kommuniziert haben.
So wie Ali ist sie mal gemobbt worden, später an der deutschen Schule. Die hat sie daraufhin abgebrochen, ist erst mal ans Theater, 17 Jahre ist sie da alt und furchtlos. "Ich habe nie geglaubt, dass es sichere Wege gibt", sagt sie, "und das habe ich als befreiend empfunden. Denn dann ist die Enttäuschung, dass etwas nicht klappt, nicht so groß." Vielleicht ist das der Grund, warum bei ihr seither ziemlich viel ziemlich gut klappt. Weil sie nicht an "für immer" glaubt. Irgendwann hat sie dann doch ihr Abi nachgeholt. Klar, um zu studieren, zu schreiben, weiter am Theater zu arbeiten - ihr Sehnsuchtsort, ihr Zufluchtsort. Ein bisschen so wie Istanbul.
2012 ist sie zum ersten Mal dort, mit einem Stipendium der Kulturakademie Tarabya. Eigentlich sollte sie nur ein paar Monate bleiben, aber schon nach einer Woche ist ihr klar: Hier gehe ich nicht mehr weg. Dieses Licht, die Wärme, die Kälte, der Schnee, der so dicht fällt, dass man nichts mehr erkennt. Das ist für Salzmann ein Zuhause. "Ich habe mich noch nie so angenommen gefühlt wie in Istanbul", sagt sie, ein bisschen heiser, und fügt an: "Das vermisse ich wahnsinnig." Es sei die Hölle, was dort gerade passiert. Dass man zusehen muss beim Zerfall einer großen Kultur. Sie könnte gegen Wände treten, wenn sie daran denke. Aber sie schreibt lieber. Das nächste Buch ist schon in Arbeit. Aber dieses Mal wird es anders.
Denn beim Schreiben von Alis Geschichte, da hat sie eine unheimliche Freiheit gespürt. Es hat ja niemand auf den Roman einer Dramatikerin gewartet. Höchstens auf das nächste Stück am Theater. Diese Freiheit, die ist jetzt verpufft. Denn so eine Nominierung zum Buchpreis bringt Rummel und Aufmerksamkeit. Jetzt erwartet man einen nächsten Roman. Den Druck muss sie aushalten. "Immer, wenn mich jemand gefragt hat, woher ich komme, da hab ich gesagt: Theater. Jetzt sage ich: Literatur", sagt sie und lacht, dass ihre Locken beben.
Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Suhrkamp Verlag, 366 Seiten, 22 Euro.
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