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Wie man die Zeit konserviert

Damals und Jetzt werden eins: Fotograf Andreas Mühe und „1913"-Autor Florian Illies bringen gemeinsam einen Fotoband heraus.

Elisa von Hof

Zuerst hat er nicht verstanden, wie das zusammenpassen soll. Seine Texte, die aus dem Bestseller "1913", neben Fotos aus der Gegenwart, neben Angela Merkel und Schlachthöfen, neben Tannenbäumen und Flüchtlingen? Florian Illies, Romanautor, Leiter der Villa Grisebach und Herausgeber der "Zeit", hat sich also gewundert, wie das aussehen soll am Ende. Und ob das Sinn macht, so nebeneinander. Denn sein Roman spielt eben nicht im Jetzt, sondern im Damals vor hundert Jahren, im titelgebenden Jahr 1913. Aber er hat sich irgendwann nicht mehr gewundert. Denn der Fotograf Andreas Mühe hat das Buchprojekt ins Leben gerufen.

Mühe also, der als "Kanzlerin-Fotograf" populär wurde, weil er Merkel häufig ablichtete. Mühe, der danach ein Merkel-Double auf Deutschlandreise schickte und mit diesen pathetischen Fotos - Merkel auf Rügen, Merkel an der Zugspitze, Merkel am Rhein - noch populärer. Illies ist dann klar geworden, dass so ein Katalog aus Bild und Text doch funktioniert. Beide halten den Moment nämlich ziemlich einzigartig fest, der eine in Bildern, der andere in Worten. Und er hat Recht: Das funktioniert. Gemeinsam haben die beiden am Dienstagabend ihr Buch "Pathos als Distanz" in der Galerie Carlier Gebauer vorgestellt.


Liebt es, mit der Illusion zu spielen: Fotograf Andreas Mühe

Fürstin Charlene von Monaco, die Hände brav auf der Abendrobe gefaltet, guckt aus einer Theaterloge hinunter, zwischen blauen Samtvorhängen hindurch, an goldenem Stuck vorbei. Ihr gegenüber: Flüchtlinge, alles Hab und Gut in Plastiksäcken dabei, auf der Hast durch Tannenwälder. In Mühes Fotos existiert beides gleichzeitig, er betrachtet beide Situationen mit der gleichen Distanz.

"Ich liebe es, mit der Illusion zu spielen: Ist das die Wahrheit oder glauben wir das bloß?", sagt Mühe. Genau so macht es Illies in seinem Roman. Auch da erzählt er eine Geschichte, die von Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler zum Beispiel, und die von Stalin und Sigmund Freud. Auch da steht der Leser vor dem Rätsel: Ist das so passiert oder lässt Illies uns das nur glauben? "Mein Ziel war es, die Vergangenheit mit meiner Begeisterung in die Gegenwart zu holen", sagt Illies und fährt mit den Fingern durch die Luft. Und genau das ist nun noch einmal geschehen, durch das Zusammenspiel mit Mühes Fotos. Wie der nun ausgerechnet auf "1913" als Gegenpart zu den Bildern gestoßen sei, das erklärt er so: "So viele Bücher habe ich nicht gelesen, dieses aber gehört dazu."

Der Titel des Katalogs, "Pathos als Distanz", den hat sich Mühe ausgedacht. So hieß bereits seine große Werkschau in den Hamburger Deichtorhallen, die im August ausgelaufen ist. Pathos und Distanz, die Begriffe passen auch gut zu Mühes Schaffen. Denn seine Fotografien - die vielen Rückenansichten, die an Caspar David Friedrich erinnern, die Prominenten und die Flüchtlinge - die kommen immer schwülstig daher. Mühe setzt auf künstliches Licht und sterile Atmosphäre. Das bringt so viel Pathos in die Fotos, dass der Betrachter wieder auf Distanz geht. "Das ist eben Fotografie für alle Sinne", schwärmt Illies. Dieses Gespür fürs Theatrale, das liegt Mühe vielleicht im Blut. Denn seine Eltern sind die Theaterintendantin Annegret Hahn und der verstorbene Schauspieler Ulrich Mühe.

Mal reiben sich hier Bilder und Geschichte, mal läuft beides parallel. Sein Text sei so neu interpretiert worden. Das konnte er sich bisher gar nicht vorstellen, sagt Illies. Der Katalog konserviert beides, 1913 und die Gegenwart.

Andreas Mühe: "Pathos als Distanz", Kehrer Verlag, 260 Seiten, 58 Euro

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