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Review

"The birds of Alfred Hitchcock"

Blondine bevorzugt – Ein neues Grusical im Theater Bielefeld

Betrachtet man die neu entstandenen Musicalproduktionen der letzten Jahre, so drängt sich schnell der Eindruck auf, dass heutzutage nahezu alles, was mehr oder weniger bühnentauglich erscheint, seinen Weg auf die Musicalbühne findet.
Alfred Hitchcock, obgleich unumstrittener Meister seines Faches, gehörte bislang nicht dazu. Dabei bietet gerade sein Genre- und Filmklassiker „Die Vögel“ aus dem Jahr 1963 als harmlos beginnende Liebesgeschichte, die in einer Naturkatastrophe der subtileren Art mündet, eine durchaus musicaltaugliche Mischung aus schwarzem Humor und Grusel.

William Ward Murta, Musical- Kapellmeister am Theater Bielefeld, bedient sich in seinem eigens komponierten Stück „The Birds of Alfred Hitchcock“, das am 25.09.2010 am Bielefelder Stadttheater seine Uraufführung erlebte, aber nicht bloß einer Adaption des Filmstoffes. Wer bei seinem Besuch erwartet, den Film in Musicalfassung zu sehen, liegt falsch.
Murta, der bereits 2004 mit „Starry Messenger“ die Uraufführung eines aus seiner Feder stammenden Musicals am Theater Bielefeld feiern durfte, begnügt sich nicht damit, die Filmvorlage zu kopieren. Vielmehr beleuchtet er die Hintergründe der Dreharbeiten. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Zusammenbruch der Hauptdarstellerin Tippi Hedren während der Dachbodenszene, in der sie fünf Tage lang von echten Vögeln beworfen wurde. Ihr Verhältnis zu Hitchcock ist Thema dieses neuen Musicals.

Das Stück beginnt mit eben jener Dachboden- Szene, in der die Hedren allein mit den Vögeln und den Anweisungen ihres nach Perfektion strebenden Regisseurs immer und immer wieder von den schwarzen Tieren attackiert wird, bis sie verletzt zusammenbricht. Aus der nun dunklen Bühne fährt ein überdimensionaler Krähenfuß auf das Publikum zu und scheint mit seinen knochigen Krallen schon nach seinem nächsten Opfer zu greifen.
Ein Effekt mit Gänsehaut- Garantie. Verstärkt wir diese bereits anfänglich aufgebaute atmosphärische Mischung aus Grusel und subtilem Horror durch die gellenden Schreie Tippi Hedrens, die den Übergang zwischen dem düsteren Prolog und dem Erwachen der Schauspielerin in einem strahlend weißen, sterilen Krankenzimmer markieren. Bevor in dieser Szene das tatsächliche Spiel beginnt, bleibt der Zuschauer einer schier endlos erscheinenden Weile Tippis Schreien ausgesetzt, bis die Hedren schließlich erwacht und damit den Zuschauer und sich selbst- vorübergehend- von ihrem Alptraum erlöst.

Auch im weiteren Verlauf der Handlung bleibt der Ausgangspunkt des Geschehens das weiße, lediglich mit einem Bett und einem Stuhl eingerichtete Krankenzimmer. Groß und hell besteht es aus drei beweglichen Wandteilen, die Tippi von den Erlebnissen am Set abzuschirmen scheinen und in ihrer Helligkeit einen markanten Kontrast zum eher dunkel gehaltenen Filmset darstellen. Geschützt vor den dortigen Erlebnissen und doch irgendwie verloren in dem kahlen weißen Raum beginnt Tippi ihrem Krankenpfleger Robin von den unmittelbar zurückliegenden Dreharbeiten zu Hitchcocks Film „Die Vögel“ zu erzählen. Der Reihe nach stellt sie ihm die Menschen vor, mit denen sie am Set am meisten zu tun hatte: Den Drehbuchautoren Evan Hunter, Hitchcocks persönliche Assistentin Peggy Robertson, den Vogeltrainer Ray Berwick und die Schauspielkollegin Jessica Tandy.

Nach ihrem überraschenden Engagement für Hitchcocks neuen Film lernt Tippi rasch die Eigenarten ihres Regisseurs kennen und fürchten, denn nicht nur sein erbarmungsloser Perfektionismus, sondern auch das Einmischen in ihr Privatleben, das besonders ihrer Romanze mit Evan Hunter behindert, erschweren ihr mehr und mehr Dreharbeiten und Leben. Ihr traumhafter Karrierestart wandelt sich so nach und nach zu einem Alptraum, der eines deutlich macht: Der wahre Horror findet nicht im Film, sondern hinter den Kulissen statt. Höhepunkt dieses Horrors ist, sowohl im Film als auch im Musical, bei den Dreharbeiten und in Tippis ganz persönlichem Alptraum jene Dachbodenszene, auf den die gesamte Handlung des Stückes ebenso unaufhaltsam und eifrig hinarbeitet, wie die gesamte Filmcrew. Die sich durch diese Szene schon im Vorfeld ausbreitende Bedrohung ist ebenso subtil wie die Bedrohung in Hitchcocks Filmen, ehe sie dann mit voller Wucht zuschlägt: Tippi beschließt sich gegen die ständigen Avancen ihres Regisseurs zur Wehr zu setzen und nicht mehr auf Abruf für ihn bereit zu stehen, fühlt sich verfolgt und ist überzeugt, Hitchcock wolle sie isolieren, um sie ausschließlich für sich zu haben. Dieser Verdacht bestätigt sich letztlich in einer Erpressung. Wenn Tippi ihm nicht voll und ganz zur Verfügung stehe, würde er, Hitchcock, ihre Karriere ruinieren.
Parallel dazu stellt Vogeltrainer Ray Berwick fest, dass die ursprünglich für die Dachbodenszene geplanten mechanischen Vögel nicht funktionieren, sodass kurzerhand echte Vögel zum Einsatz kommen. Fünf Tage lang bewerfen Ray und seine Mitarbeiter Tippi mit den Tieren, damit Hitchcock ausreichend Kameraeinstellungen bekommt. Tippi erleidet einen Zusammenbruch.

Diese Vorkommnisse basieren weitestgehend auf den tatsächlichen Ereignissen um Tippi Hedren und Alfred Hitchcock.
1961 holte Hitchcock die Blondine, die als Model arbeitete, nach Hollywood und nahm sie für sieben Jahre unter Vertrag. Nachdem sie für ihr Engagement in „Die Vögel“ einen Golden Globe als beste Nachwuchsschauspielerin erhalten hatte, drehte sie „Marnie“, einen weiteren Hitchcock- Klassiker. Anders als im Musical fand der endgültige Bruch zwischen der Hedren und ihrem Regisseur erst am Set von Marnie statt, als sie einen allzu konkreten Annäherungsversuch seinerseits abwies. Daraufhin stellte Hitchcock die Schauspielerin kalt: Obwohl er sie weiter bezahlte, weigerte er sich, sie zu besetzten. Gleichzeitig schmetterte er aber auch alle Rollenangebote anderer Regisseure ab. Als der Vertrag mit Hitchcock 1968 auslief, war Tippi Hedren nicht mehr gefragt.

In „The birds of Alfred Hitchcock“ wird Tippi Hedren von Katherine Mehrling verkörpert, die der Blondine nicht nur optisch sehr nahe kommt. Sie präsentiert stimmlich wie darstellerisch einen facettenreichen Charakter mit großer emotionaler Bandbreite, die sie ebenso intensiv wie anrührend ausschöpft.
Alexander Franzen, der bereits den vorangegangenen Produktionen am Bielefelder Theater Stimme und Gesicht verlieh, mimt einen ambitionierten Drehbuchautoren und Carolin Soyka verleiht der teilweise schon erbarmungslos strengen, immer korrekten und aufopferungsvoll ergebenen persönlichen Assistentin Hitchcocks, Peggy Robertson, Profil.
Steffen Häuser gibt einen zwielichtigen, unheimlich und skurril wirkenden Vogeltrainer und Mashall Karell agiert als Hedrens Schauspielkollegin Jessica Tandy mal komisch als zickige Filmdiva, mal verständnisvoll, fast mütterlich als Tippis einzige Freundin am Set.
Carlos Horacio Rivas begleitet als Tippis Krankenpfleger seine Patientin sympathisch und verständnisvoll durch ihre Erzählung.
Hitchcock, von allen stets Hitch genannt, erscheint niemals persönlich auf der Bühne, sondern ist als Stimme aus dem Off stets präsent und alles kontrollierend, bleibt aber auf Distanz, sowohl zu seinen Angestellten, als auch zum Publikum. Besser hätte man Hitchcocks Übermacht nicht darstellen können. John Wesley Zielmann verleiht Hitchcock mit seiner Stimme einen Charakter, der ohnehin keiner physischen Darstellung bedarf.
Ergänzt wurde das Ensemble von zwölf spielfreudigen Absolventen und Studenten der German Musical Academy Osnabrück.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Theater Bielfeld ein Stadttheater ist, ist das Bühnenbild sehr aufwendig und, wie man es bereits aus vergangenen Produktionen wie „Crazy for you“ kennt, äußerst detailverliebt und liebevoll gestaltet. Nahezu jede Szene watet mit einer neuen Gestaltung auf, es gibt immer etwas zu entdecken ohne das die Bühne jemals überladen wirkt.
So werden etwa die originalen Schauplätze des Films nachempfunden, es geht im Schnelldurchlauf vorbei an San Fransiscos Sehenswürdigkeiten oder es kommt gar Pyrotechnik zum Einsatz. Bei all dem Aufwand vernachlässigt Ausstatter Duncan Hayler das Leitmotiv des Stückes aber nicht. Auch im Bühnenbild spiegelt sich die wachsende Bedrohung durch die Vögel mal subtiler, mal direkter wieder.
Haylers Kostüme sind zeitgemäß und eher unauffällig, Tippi Hedren sticht mit ihrem grünen Kostüm besonders hervor.

Abgerundet werden diese gelungenen Komponenten durch Murtas Musik. Genretypisch halten sich schmissige Tanznummern und gefühlvolle Balladen die Waage. Darüber hinaus sind die Songs eingängig und gefällig und bieten mit „Einen Film drehn“ oder „Straßen von Bodega Bay“ auch den ein oder anderen Ohrwurm.

Bleibt die Frage, ob die Handlung um Tippi Hedren eine Geschichte ist, die unbedingt auf die Musicalbühne gehört. Die Story um eine nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit strebende junge Schauspielerin, deren naive Karriereträume rasch an der Realität zerplatzen, ist als solche weder neu noch überraschend. Durch die geschickte Verknüpfung von Film und Tippis Erlebnissen hinter den Kulissen entsteht aber eine fesselnde Geschichte, deren subtile Spannung sicher ganz nach Hitchcocks Geschmack gewesen wäre.

Und so bietet das Theater Bielefeld mit „The Birds of Alfred Hitchcock“ erneut eine Musicalproduktion auf höchstem Niveau: Überzeugende Darsteller, eine detailreiche Ausstattung und eine spannende Geschichte mit Humor, Tiefgang und Gänsehautfaktor machen dieses neue Grusical äußerst sehenswert und rundum gelungen. Ferner beweist das Theater im schnöden allerlei der deutschen Musicallandschaft Mut zu Neuem und verleiht den im Allgemeinen eher einfallslosen Spielplänen anderer (insbesonderer großer) Theater endlich einmal eine interessante, neue Facette. Nicht erst seit diesem Stück gehört das Bielefelder Theater zu den Topadressen der deutschen Musicalszene.