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Kämpfer für den Frieden

Der Nahostkonflikt als Thema der Kunst: Eine Friedenstaube mit schusssicherer Weste vom Street-Art-Künstler Banksy prangt an einer Häuserwand in Bethlehem. (Foto: Dpa)

Die Schreie, die Schüsse, die Explosionen - sie sind noch immer in Mohammed Aweidas Kopf. Er erinnert sich an all die Menschen, die verletzt und getötet wurden, darunter Freunde und Verwandte. Er wollte seine Geschwister schützen. Doch seine einzigen Waffen waren Steine und die unbändige innere Wut auf die israelischen Soldaten. Es sind Aweidas Erinnerungen von der ersten Intifada im Jahr 1987, den ersten großen Aufständen der Palästinenser gegen Israel. Er war in Ost-Jerusalem und erst 15 Jahre alt, landete immer wieder im Gefängnis. Tausende palästinensische Kinder saßen damals in israelischer Haft. „Einige von ihnen haben nur die Flagge Palästinas hochgehalten. Doch die Soldaten sperrten sie einfach ein", sagt Aweida.

Der Sozialarbeiter ist mittlerweile 46 Jahre alt - damals wie heute wollte er eigentlich nur eines: Freiheit, für seine Familie und für Palästina. Für Aweida waren die Zeiten im Gefängnis erniedrigend. „Ich liebe meine Geschwister. Irgendwann habe mich gefragt: Wie kann ich weiter kämpfen, ohne im Gefängnis zu landen?" Dabei kam er auf die Idee des gewaltfreien Widerstands. In der zweiten Intifada im Jahr 2000 verfestigte sich dieser Gedanke. „Anstatt ins Gefängnis zu kommen, wurde man jetzt getötet. Ich wollte handeln", sagt Aweida. Er tat sich mit anderen Palästinensern zusammen: friedlichen Aktivisten. 2005 gründeten sie die Bewegung „Combatants for Peace", übersetzt: Kämpfer für den Frieden. Doch sie realisierten schnell: Alleine kommen sie nicht weiter. Sie mussten die andere Seite mit einbeziehen, ihre Feinde, die Israelis.

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Auch Tuly Flint erinnert sich an die Schüsse, an das Blutvergießen, an die erste Intifada. Nur stand er auf der anderen Seite, als Kommandeur in der israelischen Armee - bewaffnet und in Uniform. Er war derjenige, der die vielen palästinensischen Kinder hat festnehmen lassen. Kinder wie Mohammed Aweida. Ob er ihn damals getroffen hat, das weiß Flint nicht mehr. Hunderte Palästinenser wurden durch Schläge mit Stöcken oder Gewehrkolben oder durch Fußtritte verletzt. „Viele Soldaten haben Beine und Arme von Kindern und Frauen gebrochen. Ich habe das nicht gemacht. Doch ich habe es gesehen - viele Male", sagt Flint. In Israel gibt es eine Armeepflicht für Männer und Frauen. Flint hatte sich bereits als Kind auf die Zeit als Soldat gefreut. Mit 19 Jahren trat er in die Armee ein. Später ging er zur Kampfeinheit Golani-Brigade, einer der besten in Israel. Er wurde Offizier und hatte nach fünf Jahren eine ganze Truppe unter sich. Genau dann, als die erste Intifada begann.

Bis 2014 hat Flint in mehreren militärischen Konflikten gedient, die meiste Zeit im Gazastreifen oder im Westjordanland. Nebenbei studierte er Sozialarbeit und spezialisierte sich auf posttraumatische Belastungsstörungen. „Der letzte Gaza-Krieg hat mich verändert. Ich habe viele Soldaten behandelt, die ein Trauma durch den Krieg erlitten haben. Auch ich selbst war traumatisiert", sagt Flint. Er wollte verhindern, dass seine zwei Töchter und die Enkelkinder unter solchen Bedingungen kämpfen sollten. „Ich habe gemerkt, dass Gewalt nur weiter Gewalt hervorbringt. Ich habe beschlossen, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern." Er wurde Friedenskämpfer.

Aktivisten demonstrieren für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts an der Mauer, die Israel von Palästina trennt. Organisiert wird der Friedensmarsch von der Organisation Combatants for Peace.

Aweida und Flint standen sich als Feinde gegenüber. Sie waren bereit, für ihr Land, für ihr Volk zu töten. Heute sind sie Freunde und kämpfen für ein gemeinsames Ziel: eine friedliche Lösung des Konflikts. „Dem Feind das erste Mal die Hand zu geben, das fiel mir sehr schwer", sagt Aweida, als er von seiner ersten Begegnung mit den israelischen Friedensaktivisten kurz nach der zweiten Intifada spricht.

Bei allen Beteiligten dominierten Misstrauen und Angst. Hatte der Andere Geschwister oder Freunde getötet? Hat er mein Haus zerstört? Das waren nur einige der vielen Gedanken, die Aweida durch den Kopf gingen. „Man verabschiedet sich von seinen Überzeugungen. Man bricht die Spirale der Gewalt und geht auf den Feind zu", schildert Aweida. „Es ist ein schwerer Schritt, der viel Überwindung kostet."

Zwei-Staaten-Lösung: Vom Ende einer Utopie Friedliche Demonstrationen und Theaterworkshops

Doch es hat sich gelohnt, diesen Schritt zu gehen. Mittlerweile besteht „Combatants for Peace" aus mehreren hundert Mitgliedern. Die israelisch-palästinensische Bewegung organisiert friedliche Demonstrationen und Theaterworkshops. Sie baut zerstörte Spielplätze und Olivenhaine auf und veranstaltet Treffen zwischen Palästinensern und Israelis. „Jede Seite hat ihre Geschichte, ihre Perspektive. Wir müssen uns erst einmal gegenseitig zuhören und verstehen. Der Dialog ist das Mittel, die Bewegung zu stärken, damit wir politisch Einfluss nehmen können", sagt Aweida.

Laut der Friedenskämpfer ist die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete das größte Problem. Das grundlegende Ziel der Bewegung besteht daher darin, die Besatzung zu beenden. „Der einzige Weg zum Frieden ist letztendlich eine Zwei-Staaten-Lösung", sagt Flint. „Die Grenzen vom 4.Juni 1967 müssen wieder gelten und Ost-Jerusalem muss als Hauptstadt Palästinas anerkannt werden." Die Bewegung fordert außerdem ein Rückkehrrecht für Palästinenser. „Der Krieg ist kein unabänderlicher Zustand", ist Flint überzeugt. „Israelis und Palästinenser sollen wieder gleichberechtigt miteinander leben können."

Mohammed Aweida und Tuly Flint berichteten in der Remberti-Gemeinde in Bremen-Schwachhausen über die Arbeit der „Combatants for Peace".

Sowohl 2017 als auch im Jahr 2018 wurde „Combatants for Peace" bereits für den Friedensnobelpreis nominiert. Aweida ist der palästinensische Koordinator der Bewegung, Flint der israelische. Um auf die Arbeit der Bewegung aufmerksam zu machen, waren die beiden auch einige Wochen in Europa, vor allem in Deutschland unterwegs. Auch in Bremen waren sie zu Gast, in der Remberti-Gemeinde in Schwachhausen.

Bremen ist eine andere, freie Welt

Sie wurden von der Bremer Friedensstiftung „Die Schwelle" eingeladen, die „Combatants for Peace"fördert. Für die beiden Friedenskämpfer ist Bremen eine völlig andere, eine freie Welt. Flint und Aweida berichten den Bremern von all dem Hass, der Gewalt, dem Blutvergießen. Es sind Bilder und Momente, die fernab der Bremer Realität liegen. Sie zeigen dem Publikum außerdem ihren Film „Disturbing the Peace". Es ist eine Dokumentation über die Entstehung und Arbeit von „Combatants of Peace". Als eines der Gründungsmitglieder ist auch Aweida zu sehen.

„Noch immer passieren schreckliche Dinge. Wir brauchen die internationale Aufmerksamkeit. Doch die meisten Staaten verschließen die Augen", sagt Aweida. Schulen werden von Israel zerstört, viele Palästinenser sind von der Wasserversorgung abgeschnitten. Der Siedlungsbau schreitet immer weiter voran und damit geht auch das Erstarken der terroristischen Hamas einher. „Der Konflikt ist alles. Du atmest ihn mit jedem Atemzug ein. Die Armee ist überall", sagt Aweida. „Du kannst dich nicht bewegen, du kannst nicht arbeiten, wo du willst. Wenn wir uns widersetzen, können wir getötet werden. Die Menschen in Palästina sind voller Wut. „Combatants for Peace" ist meine letzte Hoffnung."

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Sowohl Flint als auch Aweida werden von ihren Landsleuten kritisiert. Sie werden als Verräter, als Kollaborateure bezeichnet, die sich mit der feindlichen Seite zusammenschließen. Doch „Combatants for Peace" setzt sich nicht für eine Seite ein. „Es gibt keine richtige und keine falsche Seite. Wir müssen lernen, als Nachbarn zusammenzuleben. Dafür muss endlich der Siedlungsbau Israels beendet werden", betont Flint.

Nur Widerstand führt zu Veränderungen

Doch er weiß auch, dass Israels Präsident Benjamin Netanjahu nichts an seiner Siedlungspolitik ändern wird, wenn er keinen Widerstand von der Bevölkerung oder von der internationalen Gemeinschaft spürt. „Netanjahu hat alles, was er braucht. Was sollte er ändern? Er kann Siedlungen im Westjordanland bauen und die Palästinenser kontrollieren. Er erhält billige Arbeitskräfte, Land und Wasser", sagt Flint.

Als US-Präsident Donald Trump Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt hat, wurde ein möglicher Friedensprozess wieder zerstört. „Es war ein Wunder für Israel und eine Katastrophe für uns Palästinenser", sagt Aweida. Doch sowohl Aweida als auch Flint und all die anderen Mitglieder von „Combatants for Peace" haben noch immer Hoffnung. Sie werden nicht aufgeben. Zu viel Leid, Kämpfe und Schmerz haben sie bereits erlebt. Die Schüsse, die Schreie, das Blutvergießen sollen endlich der Vergangenheit angehören. Aweida und Flint werden weiter kämpfen: für zwei Staaten, für die Freiheit und für den Frieden.

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