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Das Outing als Befreiungsschlag

Norbert Jäger stellt den Butterkuchen auf den gedeckten Wohnzimmertisch. Der Kuchen kommt frisch aus dem Ofen. Helmut Sievers füllt derweil den Kaffee in die Tassen. Zärtlich berührt er Jäger dabei an der Schulter. Seit gut 16 Jahren sind die beiden Männer ein Paar. Ob Barbesuche, Einkäufe oder Spaziergänge - sie unternehmen so gut wie alles gemeinsam. „Uns gibt es quasi nur im Doppelpack", sagt Jäger. Der 65-Jährige ist glücklich mit Sievers in dem kleinen Haus mit Garten mitten in Gröpelingen.

Vor 16 Jahren führte Jäger noch ein anderes Leben - als Familienvater, mit seiner Frau und drei Kindern. Eine „Bilderbuchehe", wie er selbst sagt. Seine Frau lernte Jäger bei einer Betriebsfeier Anfang der 80er-Jahre kennen. Sie heirateten, bekamen drei Kinder. Es sei eine schöne Zeit gewesen. „Ich bereue nichts", sagt er. Doch Jäger spürte, dass irgendetwas fehlte. Mit Anfang 40 wurde ihm erstmals so richtig bewusst: Er war schwul. So etwas gehe nicht von heute auf morgen. „Es war ein langsamer Prozess". Blickt Jäger auf sein Leben zurück, erkennt er, dass es bereits früher Anzeichen gab.

Verliebt in einen Mann

Jäger wuchs in einem 800-Seelendorf im Landkreis Vechta auf. Er wurde katholisch erzogen, musste regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst und zur Beichte. „Ständig wurde mit der Hölle und der Verdammnis gedroht", sagt er. Als Kind habe er nur heimlich mit den Puppen seiner kleinen Schwester gespielt. Auch die Neckermann-Kataloge schaute er sich gerne an - die Seiten mit den männlichen Unterwäschemodels. Frauen interessierten ihn nicht. Er habe dabei stets ein schlechtes Gewissen gehabt. „Ich wusste, dass etwas nicht stimmte", sagt Jäger, „aber ich konnte es nie richtig einordnen." Vor 50 Jahren gab es noch kein Internet, keine Foren, Chats, keine Zugänge zu Informationen rund um das Thema Homosexualität. Auch Eltern und Freunden konnte sich Jäger damals nicht anvertrauen.

„Verdränge! Gehe dagegen an! Suche dir ein Mädchen!" - diese Sätze sagte er sich immer wieder. Mit 18 Jahren lernte er in der Disco schließlich seine erste Freundin kennen. Sie kam aus dem Nachbardorf, die Beziehung hielt sechs Wochen. Später hatte er eine weitere Freundin, mit der er auch intimer wurde. Doch der Sex habe ihn nicht umgehauen. Woran das lag, habe er nicht weiter hinterfragt. Die Gesellschaft habe ihm vorgelebt, wie die normale Familie auszusehen hat: Vater, Mutter Kind. „Man kennt das. Und man denkt automatisch: Das muss so sein", sagt Jäger. Damals galt außerdem noch der Paragraf 175: Männer, die bei sexuellen Handlungen mit dem gleichen Geschlecht entdeckt wurden, drohten lange Gefängnisstrafen. Nach Schätzungen des Bundesjustizministeriums wurden bis zur Abschaffung des Gesetzes im Jahr 1994 gut 64 000 Schwule verurteilt.

„Ich habe meine Frau als Menschen geliebt", sagt Jäger. Ihm ist wichtig, dass sie das weiß. Aber irgendwann sei es nicht mehr weitergegangen. Mit 40 begann sich Jäger mit Männern zu treffen, seine Frau wusste nichts davon. Mehrere Jahre lang ging das so. „Ich habe damals nicht mit offenen Karten gespielt." Heute bereue er das sehr. „Ich liebte meine Frau, meine Kinder. Ich wollte das alles nicht verlieren."

Das Outing als Befreiungsschlag

Als er schließlich einen Mann kennenlernte, in den er sich verliebte, verließ er seine Familie Hals über Kopf. Er sagte ihnen, dass er einen Mann liebte. Damals war er 48 Jahre alt. Die Beziehung zu dem vermeintlichen Traummann hielt nicht lange. „Er hatte viele Probleme. Das ist nicht lange gut mit uns gegangen. Aber ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich aus der Ehe herausgeholt hat", sagt Jäger. Seine drei Kinder brachen den Kontakt zu Jäger ab, distanzierten sich. Beim sogenannten Coming-out waren seine Töchter elf und 14 Jahre alt, der Sohn war 18. „Die Kinder waren Teenager, für sie war es ein Schock. Sie konnten es erst nicht akzeptieren", sagt Jäger.

Das Outing bei Kollegen und Freunden verlief ruhiger. Es gab teilweise sogar die Anerkennung für seinen Mut, ein neues Leben anzufangen. „Mir ging es danach besser. Es war wie ein Befreiungsschlag." Auch seiner Mutter erzählte er davon. Sie sei erst erschrocken gewesen, sagt Jäger. Dann habe sie zugegeben, dass sie bereits früher etwas geahnt hätte. Doch sie war mit ihren Gedanken nie auf ihren Sohn zugekommen. Schließlich hatte er ja auch eine Frau geheiratet. „Man sprach eben nicht darüber", sagt Jäger. „Das geschieht heute leider noch zu oft."

Drei Monate nach seinem Coming-out lernte er schließlich Helmut Sievers kennen. Auch Sievers war verheiratet, hatte einen Sohn und bereits seine Frau verlassen. Er hatte ebenfalls ein schwieriges Coming-out hinter sich, „das war ganz schlimm. Es gab damals sehr viele Tränen", sagt Sievers. „Hier habe ich es meiner Ehefrau erzählt." Er zeigt auf die kleine Küche, die an das Wohnzimmer angrenzt. Jäger und Sievers leben heute in eben jenem Haus, in dem Sievers zuvor jahrelang mit seiner Familie gelebt hatte. Seine Frau lebt im unteren Stockwerk in einer eigenen Wohnung. „Das ist ungewöhnlich und manchmal nicht ganz so leicht", sagt Sievers. „Aber es gelingt mit Respekt, Rücksichtnahme und vielen Gesprächen."

Nach Jägers Coming-out besuchten die beiden Männer gemeinsam die Selbsthilfegruppe „Schwule Väter in Bremen" im Rat & Tat im Viertel. „Wir haben dort gesehen, dass wir nicht alleine sind", sagt Jäger. Das habe damals geholfen. Beim ersten Treffen hörte Jäger nur zu. Die Worte kamen ihm erst bei späteren Treffen über die Lippen. Mit der Zeit kamen sich auch Jäger und seine Kinder wieder näher. Es folgten zahlreiche Gespräche. Auch mit seiner Frau hat er heute endlich wieder Kontakt. „Das Zueinanderfinden hat lange gedauert", sagt Jäger. „Ich kann es ihr nicht verübeln." Inzwischen sind Jägers und Sievers Familie zu einer großen Familie zusammengewachsen. „Wir verstehen uns alle sehr gut, unterstützen uns." An Weihnachten komme die gesamte Familie zu Besuch in das kleine Haus in Gröpelingen. „Uns freut das sehr. Das ist viel wert", sagt Jäger.

Schwule Väter in Bremen

Die Selbsthilfegruppe „Schwule Väter in Bremen" gibt es mittlerweile nicht mehr. Dafür haben Sievers und Jäger vor neun Jahren eine neue Gruppe gegründet: „Ans andere Ufer?!". Sie richtet sich an schwule Männer in Bremen und Niedersachsen, die sich im Alter outen wollen oder diesen schweren Schritt bereits getan haben. Die Gruppe ist sehr wichtig, sagt Jäger. Denn auch heute gebe es noch zahlreiche Familienväter, die in derselben Situation steckten wie einst Sievers und Jäger. „Wir machen ihnen klar: Niemand trägt die Schuld. Weder die Frau noch der Mann", sagt Jäger. „Wir sprechen auch oft mit den betroffenen Ehefrauen, versuchen es ihnen zu erklären." Einige Frauen seien sehr verzweifelt. „Manchmal rufen auch welche bei uns an, weil sie befürchten, dass ihre Männer schwul sind. Auch da helfen wir immer weiter."

Akzeptanz und schiefe Blicke

Jäger und Sievers werden von den meisten Menschen mittlerweile als Paar akzeptiert. „Wir leben gerne in Gröpelingen. In unserer Stammkneipe werden wir von allen Gästen respektiert", sagt Jäger. „Die Menschen freuen sich, wenn sie sehen, wie wir selbstverständlich lieben, leben und es auch zeigen. Wir bekommen sogar Freigetränke ausgegeben." An eine Situation erinnern sich Jäger und Sievers besonders gerne. Bei einer Kohlfahrt seien die beiden Männer in einer Gaststätte in Borgfeld auf die Tanzfläche gegangen. „Wir tanzen sehr gerne", sagt Sievers. „Bei dem ein oder anderen Mann ist dann allerdings die Kinnlade heruntergefallen." Sievers muss lachen, als er davon erzählt. „Wenn Frauen zusammen tanzen, sagt keiner etwas. Aber bei Männern ist das immer noch ein Problem." Ein Gast habe sich damals sogar beim Wirt beschwert. „Der hat aber super reagiert und den Mann fast aus dem Laden geworfen", sagt Sievers.

Der Mann in der Gaststätte sei kein Einzelfall in Bremen. Es gebe immer noch viele Menschen, die Homosexualität nicht akzeptierten. Händchen haltend auf den Straßen in Gröpelingen zu laufen - das vermeiden Jäger und Sievers bis heute. „Das ist für verschiedene Kulturen immer noch provokativ", sagt Jäger. In vielen Köpfen stecke leider noch fest, dass sie als Paar „nicht normal" seien. Auch in ihrer Selbsthilfegruppe gebe es immer wieder Negativbeispiele zu hören. Der Vater eines Mannes habe etwa nach dessen Coming-out kein Wort mehr mit seinem Sohn gesprochen, bis zu seinem Tod. Bei einem anderen Mann bete die Mutter seit Jahren regelmäßig in der Kirche, dass der Sohn wieder gesund werden soll. Also: heterosexuell. Der Sohn sei mittlerweile über 60 Jahre alt. Auch Sievers und Jäger erleben ab und zu Beschimpfungen auf der Straße, ernten schiefe Blicke. Jäger schaut Sievers an. „Je selbstverständlicher wir uns geben, desto weniger Angriffsfläche geben wir den Menschen", sagt er, „wir leben unser neues Leben."

Zur Sache

Selbsthilfegruppe für das späte Coming-out

Das „Ans andere Ufer?!" ist eine Selbsthilfegruppe für das späte Coming-out für schwule Männer in Bremen und Niedersachsen. Vor neun Jahren haben Norbert Jäger und Helmut Sievers die Gruppe ins Leben gerufen und leiten sie seitdem gemeinsam. Die Teilnehmer treffen sich einmal im Monat im Rat & Tat-Zentrum in der Theodor-Körner-Straße 1 im Bremer Viertel.

An den Treffen nehmen Singles, verheiratete Männer und Familienväter teil, die alle mehr als 30 Jahre alt sind. Einige haben ihr Coming-out bereits hinter sich, anderen steht dieser schwere Schritt noch bevor. Auch Unentschlossene und Interessierte können an den Treffen teilnehmen.

Laut Jäger wird es für Männer immer schwerer sich zu outen, je älter sie werden. Innerhalb der Gruppe erhalten sie daher die Möglichkeit, sich in einem kleinen Kreis auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Muss ich mich im Job outen? Wie sage ich es meiner Familie? Bin ich schwul oder bi? Macht ein Neustart des Lebensweges in meinem Alter Sinn? Eben jene Fragen können gemeinsam besprochen und beantwortet werden.

Gut 20 Männer besuchen derzeit die Selbsthilfegruppe. Interessierte können vor einem Besuch schriftlich Kontakt mit Jäger und Sievers aufnehmen. Die E-Mail-Adresse lautet ans-andere-ufer@t-online.de.

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