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Beschützt und verfolgt: Wie Jesiden in Deutschland  leben

Nadia Murad baut sich in Deutschland ein neues Leben auf. Doch das schaffen nicht alle Jesidinnen. Mit den Opfern des IS-Terrors kamen offenbar auch einige der Täter ins Land. Foto: imago stock&people / imago/CTK Photo

Elena Boroda und Christian Unger

Die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad hat Schutz vor Terror gefunden. Doch andere Jesidinnen fühlen sich auch hier nicht sicher.

Berlin. Sie war nach Deutschland geflohen, um Schutz zu finden. Vor Krieg und Gewalt in ihrer Heimat, dem Irak. Vor dem Peiniger der Terrorgruppe „Islamischer Staat", der sie versklavt und vergewaltigt hatte.

Aber Deutschland war für die 18 Jahre alte Aschwak Talo nicht sicher. Die Menschen, die sie verfolgt hatten, suchten sie auch hier auf. Auf der Straße im beschaulichen Schwäbisch-Gmünd in Baden-Württemberg. So erzählt es Aschwak Talo, die junge Jesidin.

Unsere Redaktion hat sich auf Spurensuche begeben, mit Aschwak Talo gesprochen, mit Menschen, die sich in Deutschland um junge Jesidinnen kümmern, mit Ärzten, die Jesidinnen wie Talo kennen, mit Staatsanwälten, Völkerrechtlern, Psychologen.

Die Recherche zeigt, dass Talo kein Einzelfall ist. Allein sieben weitere Jesidinnen, die sagen, sie hätten ihren IS-Peiniger wiedererkannt, sind dem baden-württembergischen Innenministerium bekannt. „In einem Fall ist die Behauptung widerlegt worden", so ein Sprecher des Ministeriums in Stuttgart.

Die Schwester wurde verkauft, als sie elf Jahre alt war

1100 jungen Jesidinnen, Opfern der IS-Gewalt im Nordirak, hatte das Bundesland 2015 Schutz gegeben. Unter ihnen ist Nadia Murad. Der 25 Jahre alten Jesidin wurde am Freitag der Friedensnobelpreis für ihren Einsatz gegen Missbrauch und Gewalt an Frauen zuerkannt.

Murad selbst war von Terroristen versklavt und vergewaltigt worden. Heute ist sie UN-Sonderbotschafterin und kämpft um Gerechtigkeit für die Jesiden. Murad hat hier Schutz gefunden, lebt in der Nähe von Stuttgart, ist verlobt. Ihr Leben wendete sich zum Guten. Die Jesidin Ashwak Talo dagegen sah sich zur Flucht gezwungen, erneut, diesmal aus Deutschland.

Bei der Generalstaatsanwaltschaft in Karlsruhe nehmen Staatsanwälte mit einer eigenen Abteilung die Verbrechen gegen Jesidinnen wie Aschwak Talo ins Visier. Rund 100 junge Frauen haben sie in Deutschland als Zeugen vernommen. Auch die Sprecherin der Anwaltschaft bestätigt, dass Talo kein Einzelfall ist. Genaue Zahlen über laufende Verfahren gegen mutmaßliche IS-Peiniger in Deutschland will sie nicht nennen. Das könne die Ermittlungen gefährden. Zwei internationale Haftbefehle sind bisher verhängt worden.

Wie stark Geflüchtete aus dem Irak und Syrien auch in Deutschland bedroht sind, ist unklar. Auch wer die Täter sind. Die Kriminalbeamten stoßen oft an Grenzen. Und doch gehen sie seit Jahren mühselig vielen Spuren nach.

„Nach Deutschland kann ich nie wieder zurück"

„Im Irak fühle ich mich nicht sicher, aber nach Deutschland kann ich nie wieder zurück. So groß ist meine Angst", sagt Talo im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie ist zurück in ihrer Heimat. Jetzt lebt die Jesidin in einem irakischen Flüchtlingslager. Ihre Stimme klingt trotzdem kräftig, nicht verängstigt. Talo hat ihre Geschichte auch in einem Handyvideo erzählt und online gestellt. Fast 200.000 Mal wurde der Film geklickt. Er hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt - aber auch neue Ängste entfacht.

Holger Geisler ist ehemaliger Sprecher des Zentralrats der Jesiden. Er kennt mehrere junge Frauen, die um ihre Sicherheit in Deutschland bangen. Zum Beispiel die 17-jährige Sozan. Sozan will derzeit selbst mit Medien nicht sprechen. Also erzählt Geisler ihre Geschichte. „Als Sozan 13 Jahre alt war, wurde sie mehrfach verkauft, war mehr als ein halbes Jahr lang in IS-Gefangenschaft. Sie sagt, 17 verschiedene Männer vergewaltigten sie." Sozan sei freigekauft worden, sie kam 2015 nach Oldenburg.

„Zunächst war sie in einer Jugendpsychiatrie. Dann lief es immer besser. Sie machte einen sehr guten Hauptschulabschluss, suchte sich eine Lehrstelle. Seit sie Aschwaks Video entdeckt hat, hat sie Angstzustände, wenn sie Arabisch auf der Straße hört. Sie wirkt um Jahre zurückgeworfen", sagt Geisler.

Jesidinnen aus dem Irak von Anfang an besonders geschützt

Trauma-Experten berichten, dass Opfer von Gewalttaten auch noch Monate später durch eine Begegnung oder eine Erinnerung tief erschüttert werden können - und dieses Trauma sie manchmal auch falsch leitet. „Das, was Aschwak sagt, halte ich für glaubwürdig, auch, dass sie ihren IS-Peiniger gesehen hat. Sie hatte ihre Traumata verarbeitet", erläutert der Trauma-Psychologe David Merk.

Er leitet das Behandlungszentrum, in dem die 18-Jährige zweieinhalb Jahre lang eine Therapie machte. Merk heißt eigentlich anders, er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, weil er und seine Mitarbeiter bereits oft bedroht worden seien.

Jesidinnen aus dem Irak seien von Anfang an in Deutschland besonders geschützt worden, sagt das Innenministerium in Baden-Württemberg. Es gebe eine Notfallnummer für die Frauen, über die die Polizei schnell erreichbar sei. Die Wohnanschriften der Jesiden sollten nicht öffentlich gemacht werden.

Doch im Fall von Aschwak Talo ist das passiert. Der Schutz, den die Polizei ihr angeboten hatte, reichte nicht. „Ich hätte in ein anderes Heim umziehen können, aber dort lebten auch Araber", sagt sie am Telefon. Sie fürchtete, dass die mutmaßlichen IS-Schergen sie auch dort finden würden.

Nicht nur Opfer fliehen nach Deutschland - auch Täter

Die Glaubensgemeinschaft der Jesiden, nur einige Hunderttausend Menschen groß, siedelt zumeist im Nordirak, auch in Syrien. Als „Teufelsanbeter", als „Kufar", Arabisch für „Ungläubige", verfolgt der IS die Jesiden.

Doch nicht nur die Opfer flohen nach Deutschland. Auch Täter kamen. In mehreren Fällen konnten die Sicherheitsbehörden nachweisen, dass Islamisten mit gefälschten Papieren vor allem ab 2015 in die EU einreisten.

Eine UN-Kommission erkannte in systematischen Handlungen des IS gegen die Jesiden einen Völkermord. IS-Kämpfer versklavten, missbrauchten und vergewaltigten mehr als 4500 Frauen und Mädchen ab dem Alter von sechs Jahren. Mehr als 3200 Jesidinnen und Jesiden sollen sich noch in IS-Gefangenschaft befinden.

Männer wurden laut UNO systematisch getötet und Jungen zwischen acht und 18 Jahren zu Kämpfern ausgebildet. Auch IS-Anhänger aus Deutschland sollen Frauen versklavt haben.

Oft scheitert die Justiz

Der Schutz der Opfer wird zugleich zu einer Jagd auf die Täter. Doch oft scheitert die Justiz. Ein internationales Tribunal für die vom IS verübten Kriegsverbrechen gibt es nicht. . Der internationale Strafgerichtshof ist nicht zuständig, weil weder der Irak noch Syrien diesem Gericht beigetreten sind. „Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen könnte den Gerichtshof beauftragen. Das ist bei der politischen Lage aber nicht zu erwarten", sagt Christoph Safferling, Professor für Völkerstrafrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Russland, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, will nicht, dass Kriegsverbrechen aus Assads Reihen geahndet werden, denn Russland unterstützt die amtierende syrische Regierung.

Deutschland jagt die mutmaßlichen Kriegsverbrecher vorerst auf eigene Faust. Beim Bundeskriminalamt gibt es eine Sondereinheit, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufklärt. Ein gutes Dutzend Kriminalbeamte reist im Auftrag der Staatsanwälte quer durch die Republik, interviewt Flüchtlinge, sucht nach Hinweisen der Zeugen für Kriegsverbrechen, forscht nach Fotos und anderen Belegen für Gewalt. Mehrfach vernahmen Polizisten auch Aschwak Talo, nachdem sie ihren IS-Peiniger in Deutschland gesehen haben wollte. Auch ein Phantombild zeichneten die Beamten mit ihrer Hilfe. Doch bis heute konnten sie den mutmaßlichen Täter nicht identifizieren.

IS-Bürokratie der Verbrechen

Die Rechtslage macht die Arbeit der Ermittler nicht leichter. „Völkermord ist viel schwieriger nachzuweisen, weil der Täter die Absicht gehabt haben muss, die Gruppe als solche zu vernichten", erläutert Völkerrechtler Safferling. Dabei hatte der IS den Umgang mit Jesidinnen durchaus detailliert geregelt mit Vorgaben zum Übergang des Eigentums an Frauen, der Beteiligung von IS-Imamen am Verkauf, besonderen Heiratsformularen. Das hat der Uno-Menschenrechtsrat ermittelt. Diese Bürokratie war ein Teil der Strategie, die Jesiden auszulöschen - davon geht der Uno-Rat aus.

Hilfreich für das Sammeln von Beweisen ist vor allem Bildmaterial, das der IS selbst gedreht hat. 2014 kam ein Video an die Öffentlichkeit, in dem Kämpfer damit prahlten, Frauen auf einem Sklavenmarkt kaufen zu wollen. „Die Ermittlungen sind dabei wie ein schwieriges Puzzle: der Tatort ist in Syrien oder im Irak, das Opfer in Deutschland, eine Zeugin in Schweden.

Ermittlungen dauern Jahre

EU-weit, auch in Deutschland, dauert es Jahre, manchmal Jahrzehnte, genug Beweismaterial für eine Anklage zu Kriegsverbrechen zusammenzutragen", sagt Matevz Pezdirc, Leiter des Genozid-Netzwerks der EU, welches Strafverfolger vernetzt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verjähren nicht. „Deutschland ist einer der Vorreiter in der Bekämpfung", sagt Pezdirc.

Das Strafmaß bei Völkerrechtsverbrechen richtet sich nach deutschem Recht: lebenslange Haft für Völkermord und mindestens fünf Jahre bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bisher hat es abseits der Anklagen wegen Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe europaweit nur eine Handvoll Prozesse oder Anklagen wegen Kriegsverbrechen gegen IS-Mitglieder gegeben.

Gerechtigkeit für ihre Verwandten

Mit der Hilfe der EU-Polizeibehörde Europol wollen sich deutsche Strafverfolger Zugang verschaffen zu Material, das US-Soldaten und Polizisten vom FBI im Irak und in Syrien sammeln.

Vom Hauptquartier in Jordanien aus ziehen US-Militärs los und suchen nach Spuren von IS-Tätern in früheren Kampfgebieten: etwa nach Fingerabdrücken oder DNA-Spuren an sichergestellten Waffen oder Sprengkörpern, aber auch an Stellen, an denen Massengräber von Opfern der Terroristen gefunden werden. Diese Spuren könnten den deutschen Ermittlern helfen - sie könnten entscheidend sein, um auch die Täter zu fassen, die an den Verbrechen gegen die Jesiden beteiligt waren.

Aschwak Talo erzählt am Telefon, sie wolle nicht nur für sich Gerechtigkeit, sondern auch für ihre Verwandten: „Der IS hat 41 Menschen aus meiner Familie verschleppt. Meine Schwester Reham hat mein IS-Peiniger verkauft. Ich habe sie nie wieder gesehen. Sie war elf Jahre alt."

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