Obdachlose sieht man oft mit Tüten durch die Straßen der Großstadt ziehen. Rachid Moussa hat keine Tüten - denn er hatte nichts und ist auch mit nichts nach München gekommen. Viele der Obdachlosen in Deutschland sind Ausländer. Sie hofften auf Arbeit und ein gutes Leben, doch bald wird ihnen klar: Sie werden offenbar auch mit nichts wieder gehen.
Ein libyscher Schleuser, 380 Passagiere, 1000 Euro, ein Boot - „Das Boot des Todes, so nenne ich es seitdem", sagt Rachid Moussa und versteckt sein Kinn in der blauweißen Kapuzenjacke. Der schlaksige 26-Jährige tritt von einem Bein auf das andere, ihm scheint kalt zu sein. Er steht im Innenhof der Obdachlosenhilfe im Haneberghaus von St. Bonifaz in München. In Moussas marokkanischer Heimatstadt Khouribga hat es zu dieser Zeit um die 20 Grad. Von dort reiste er im Juli 2014 nach Libyen, um nach Europa zu kommen. Obwohl das für ihn als Marokkaner ein Umweg ist, hat ihn der Preis von umgerechnet 1000 Euro für die Überfahrt überzeugt. Nach dem Sturz Gaddafis hätten libyische Schleuserbanden die instabilen Verhältnisse für sich genutzt, erzählt Moussa. Heute reicht ihr Ruf bis nach Eritrea, Somalia und eben auch bis nach Khouribga. Während er spricht, stecken seine Hände in einer verwaschenen Jeans. Er trägt eine Kappe mit dem Logo des Baseball-Teams der New York Yankees auf dem Kopf. Ob er das weiß? Er hat es aus der Kleiderkammer, meint er schulterzuckend. Ihm scheint es unangenehm zu sein. In Marokko hat Moussa Literatur studiert, aber wie die meisten Jugendlichen in seinem Land war er danach arbeitslos. „Es gab keine, wirklich gar keine Arbeit", sagt er auf Arabisch. Bislang spricht er noch kein Wort Deutsch. Es klingt wie eine Rechtfertigung, als er das sagt. Er zieht seine Kappe zurecht, eine schwarze Locke springt in seine Stirn.
Ohne die Obdachlosenhilfe von St. Bonifaz hätte Moussa nicht gewusst, wo er so früh am Morgen hin soll. Hier darf er duschen, etwas essen und sich Kleidung holen. Das Haneberghaus von St. Bonifaz ist das Lebenswerk von Frater Emmanuel Rotter. In seinem Büro steht eine gemütliche Sitzecke, durch die Fenster im Erdgeschoss scheint die Morgensonne. Er trägt das schwarze klösterliche Gewand, einen Habit, seine klaren blauen Augen blicken aus den runden Brillengläsern. Er lebt seit 25 Jahren in München und kommt ursprünglich aus Wasserburg am Inn. Anfang der Neunziger hat er mit einem anderen Benediktiner die Gegend rund um den Königsplatz, den Botanischen Garten und die Innenstadt abgesucht und Obdachlose nach ihren Grundbedürfnissen befragt. Die meisten von ihnen klagten darüber, dass sie keinen Ort finden, an dem sie „tagsüber für ein paar Stunden sein können", erzählt Frater Emmanuel. Mit diesen Erkenntnissen ausgestattet eröffnete er im Jahr 2001 das heutige Haneberghaus. Seitdem können Obdachlose hier von sieben Uhr bis zwölf Uhr dreißig kostenlos eine warme Mahlzeit zu sich nehmen, duschen und bei Bedarf kostenlos eine Arztpraxis aufsuchen. Mehr als zweihundert Obdachlose nehmen pro Tag das Angebot in St. Bonifaz an. Um die große Nachfrage stemmen zu können, hat Frater Emmanuel acht ehemalige Obdachlose fest angestellt.
75 Prozent der Obdachlosen, die zu ihm kommen, sind Ausländer, erzählt Frater Emmanuel. „Die müssen von daheim weg, weil sie dort keine Arbeit mehr finden. Die Behörden sagen: ‚Die gibt's nicht!´", erklärt Rotter die Situation vieler ausländischer Obdachloser. Der Zugang zu sozialen Einrichtungen sowie privaten Obdachlosenheimen bleibt Ausländern aus sogenannten negativen Drittstaaten, also nicht EU-Mitgliedsstaaten, häufig verwehrt. Länder wie Marokko und Tunesien gelten trotz der prekären wirtschaftlichen Lage nicht als Krisengebiet. Dementsprechend aussichtslos ist ihre Chance auf ein Asylverfahren. „Der Staat sagt: ‚Nein nein nein, es werden nur die gefördert, die hier gelebt und gearbeitet haben'", erzählt Frater Emmanuel. Er schüttelt den Kopf. Zumindest im Winter hat die Stadt München einen Kälteschutz eingerichtet. „Eine Stadt wird sich nie so blamieren wollen, dass da einer erfriert, egal woher er auch kommt", sagt Frater Emmanuel. Im Haus 12 der Bayernkaserne dürfen Obdachlose im Winter übernachten. Im Sommer müssen Menschen wie Moussa wahrscheinlich wieder auf der Straße schlafen.
Die vergangene Nacht hat der unverheiratete Marokkaner nicht draußen geschlafen, es ist zu kalt. Dabei ist er es gewöhnt draußen zu schlafen. Die ersten Tage in München verbrachte er auf der Straße. Auch in Italien, seiner ersten Station in Europa, schlief er bereits unter freiem Himmel. Während der 26-Jährige die letzten Monate Revue passieren lässt, bleibt sein Ton unverändert. Er erzählt es geradezu nebenbei, als wäre es die Geschichte eines anderen. „Heute habe ich in der Kaserne geschlafen. Jeden Tag um sieben Uhr müssen wir das Gebäude verlassen. Dann nehmen wir die U-Bahn und fahren hierher", sagt er und zeigt auf den Speisesaal von St.Bonifaz. Ein Ticket habe er nicht, die Frage scheint ihn zu amüsieren. „Ich habe keinen Cent in der Tasche", sagt er und grinst dabei, sein großer Mund wird dabei immer größer. Mit „wir" meint er seine Bekanntschaften. Männer aus Tunesien, Marokko, Palästina und Ägypten, die hierher gekommen sind, um nach Arbeit zu suchen. „Es heißt doch immer, es gibt hier so viel Arbeit, aber davon spüre ich nichts", er redet sich in Rage, nimmt die Hände aus der Hosentasche. „Alle wollen Papiere, Papiere. Gebt mir doch welche, und ich arbeite!", hilflos wirft er die Hände in die Luft. Ob er sich Sorgen um seine Zukunft macht? „Bislang - Gott sei Dank - wurde ich wegen meiner Papiere noch nicht erwischt. Ich vertraue auf Gott, dass sie mich nicht zurückschicken." Ein befreundeter Palästinenser möchte ihn offenbar beruhigen und bietet ihm einen Zug von seiner Zigarette an. Moussas Zukunftspläne? Sein palästinensischer Freund kommt dem jungen Marokkaner zuvor, lacht zynisch und antwortet dann grinsend: „Er plant hier Medizin zu studieren. Na, was soll er schon vorhaben?" Der 26- Jährige zögert, nimmt einen letzten, kräftigen Zug von der Zigarette. Er weiß nur, dass er morgen wieder im Innenhof des Haneberghauses sein wird. Ohne Plastiktüten. Und ohne einen Plan. Dann hebt er seinen Kopf gen Himmel und pustet den warmen Rauch in die kalte, bayerische Luft.