Es begann mit einer Beschwerde. Jeremy Moon produzierte im dritten Jahr T-Shirts aus Merinowolle, als ihn der Brief einer verärgerten Schafzüchterin erreichte. Die Kleidung seines Labels "Icebreaker" fussele und bekomme bereits beim ersten Waschen Löcher, empörte sich die Absenderin. Ihr drastisches Urteil: "Sie sind eine Schande für die ganze Branche!" Moon war schockiert. "Ich habe die Welt nicht mehr verstanden", erinnert er sich, während er das lochanfällige Ur-Shirt sinken lässt, das er gerade vorführt.
"Wir kauften damals das fertige Garn. Ich dachte, Merinowolle sei einfach per se super." Es war 1997, Moon war ein wuschelhaariger Mittzwanziger mit blauen Augen und der erste, der Outdoor-Kleidung aus Merino herstellte - einem Material, das dem sportlichen, umweltbewussten Konsumenten all das zugutekommen lässt, was es auch am Schaf leistet: Das Haarkleid der Merinoschafe ist geruchsneutral, saugfähig, temperaturausgleichend und nachwachsend dazu.
Die perfekte Lösung für alle, die nicht mehr in Synthetik gehüllt in die Berge ziehen wollten. Und nun das. Jeremy Moon wollte verstehen, wie die Löcher entstanden. Er fuhr in die Berge, um sich die Schafe anzugucken und mit Bauern zu reden. Schnell begriff er: Je glücklicher das Schaf, desto besser die Wolle - und desto stabiler das Garn. Für die Wollqualität zählt jeder Tag: Stress, Mangelernährung oder gesundheitliche Probleme wirken sich unmittelbar auf die Faser aus, ähnlich wie Jahresringen am Baum. Er verstand auch: Je mehr Kontrolle über Lieferkette und Verarbeitungsprozess, desto weniger Löcher im Shirt. "Es gab nur einen logischen nächsten Schritt", sagt Moon, "direkt mit den Farmern zusammenarbeiten."
Träumer mit TatkraftWas einfach klingt, war in Wirklichkeit ein Pippi-Langstrumpf-Akt mit weitreichenden Folgen. Moon macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Der Icebreaker-Chef bot den Farmern Direktverträge an - und stellte damit mal eben die Branche auf den Kopf. Neuseeländische Merinowolle, ein hochvolatiler Rohstoff, war bis dato ausschliesslich auf Auktionen verkauft worden. Zu Preisen, die, von Angebot und Nachfrage des Weltmarktes diktiert, so unvorhersehbar waren wie das neuseeländische Wetter. Für die Produzenten ein Desaster.
"Wir hatten von einem Jahr aufs andere Preisschwankungen von bis zu 300 Prozent", erzählt Kate Cocks (Bild rechts). Sie ist Schafzüchterin auf Mount Nicholas Station, im äussersten Südwesten der Südinsel gelegen, und betreibt vor der spektakulären Kulisse der neuseeländischen Alpen eine Zucht von 30 000 Merinoschafen, eine der grössten des Landes. Von den Bedingungen, unter denen die studierte Landwirtin und Betriebswirtschaftlerin heute Merinowolle produziert, konnte ihr Vater nur träumen. Über dessen gesamtes Jahreseinkommen entschied der Weltmarktpreis am Auktionstag, meist im Februar. Cocks erinnert sich noch gut daran, wie sie darauf warteten, dass der Vater nach Hause kam, "entweder jubelnd oder am Boden zerstört". Das Frustrierende daran: Der Preis spiegelte in keiner Weise die Qualität der Wolle des individuellen Züchters wider.
Ihr Vater war einer der ersten Farmer, mit denen Jeremy Moon damals Kontakt aufnahm. "Er mochte Moon - und dessen Idee, dass man mit Merino viel mehr machen könne als Teppiche und Anzüge, die fand er gut. Als der Jungunternehmer wieder abreiste, sagte Cocks Senior: ‹Was für ein Träumer, den sehen wir nie wieder.›" 18 Jahre später gehen jährlich 60 bis 80 Prozent der auf Mount Nicholas produzierten Wolle an Icebreaker. Es waren Männer wie Kate Cocks' Vater, die in den späten 1990er-Jahren nach einem besonders frustrierenden Auktionstag zusammensassen und beschlossen: So geht es nicht weiter. Sie gründeten "NZ Merino", einen Interessensverband der Merinozüchter. Sie wollten das gleiche wie Jeremy Moon: Planungssicherheit. Hochwertige Wolle zu fairen Preisen.
Wolle und MerinoJeremy Moon sitzt in seinen Büroräumen in Ponsonby, dem Hipsterviertel von Auckland, und nimmt einen Schluck grünen Tee. "Innovation", sinniert er, "entsteht durch Synchronizität: wenn die richtige Idee auf den richtigen Ort und die richtige Zeit trifft." Moon, der Träumer, hatte sich bei seinen Besuchen auf den Schaffarmen verliebt. Das neuseeländische Hochland mit seiner Grossartigkeit und Weite hatten ihm tiefe Ehrfurcht eingeflösst vor der Natur und ihren Kreisläufen. Es war "eine Erleuchtung", wie er sagt. "Ich sehe das noch vor mir, wie sich die Ankerpunkte von Icebreaker vor meinem inneren Auge verschoben: Da spannte sich ein Bogen, und der begann bei den Farmern in den Bergen und endete bei den Menschen, die zurück in die Natur wollten." Der Brückenschlag zwischen diesen beiden Welten wurde zum Kern der Marke.
Der direkte Draht zu den Farmern besteht seitdem aus Dreijahresverträgen. Icebreaker garantiert, festgelegte Mengen Wolle von definierter Faserstärke abzunehmen. Im Gegenzug verpflichten sich die Züchter, ethische Standards einzuhalten. Was dem Tierschutz dient, sichert auch die Qualität: Nur ein glückliches, gesundes Tier hat schönes Haar. Tom Rowley (Bild links), der in dritter Generation die Lake Hawea Station in Central Otago betreibt, findet diese Richtlinien hilfreich: "Wir mussten gar nichts ändern, um diese Standards einzuhalten. Trotzdem sind sie nützlich, wir verstehen so besser, was wir tun und tun es nicht nur, weil schon Daddy das so gemacht hat." Im trockenen Gebirgsklima am Lake Hawea produzieren die Rowleys mit ihren 8000 Schafen Wolle von Weltrang, allerfeinste Qualität. Der erfahrene Schafzüchter würde am liebsten seine gesamte Produktion über Verträge verkaufen. Bislang gehen nur 30 Prozent seiner Wolle an Icebreaker - das Label hat für seine Socken und Hoodies vorrangig Bedarf an dickeren Fasern. Rowley und seine Söhne sind deshalb dabei, die Herde zu dickeren Fasern hin zu entwickeln. Der Züchter ist sich sicher: "Die Merinoindustrie kann nur mit Verträgen überleben. Wir brauchen mehr Firmen, die das tun.
Endlich können wir sinnvoll investieren und planen. Und, ehrlich gesagt, auch mal in Urlaub fahren." Ob ihm wichtig ist, was aus seiner Wolle wird? "Oh ja. Es ist grossartig, wenn das gute Produkte sind. Jeder Schafzüchter hat einen Merino-Anzug im Schrank, aber den tragen wir ja nur zu Hochzeiten und Beerdigungen." Rowley holt ein paar Turnschuhe hervor: geruchlose Sneakers aus Merinowolle. Mitentwickelt von NZ Merino. Der damals beim Bier gegründete Interessenverband hat sich über die Jahre zu einer innovativen Vermarktungsorganisation gemausert, die aus dem Rohstoff Merinowolle eine weltweit gefragte Marke entwickelt und für diese unterschiedlichste Märkte eröffnet hat. Rowley ist sich sicher: Ohne Icebreaker wäre das nicht möglich gewesen. "Die Leute hatten keine Lust mehr auf Wolle, weil sie kratzte. Heute gibt es ‹Wolle› und es gibt ‹Merino›.
Das ist Jeremys Verdienst." Die Neuseeländer, lange als hinterwäldlerisch belächelt, sind stolz darauf, dass aus ihrer "Nationalfaser" stylische, weltweit gefragte Mode produziert wird. Klamotten von Icebreaker sind im Inselreich Down Under eine Art Nationaluniform. Der Gründer steht für Werte wie Transparenz und Nachhaltigkeit - ein Image, das gut zu dem Bild passt, das das Land von sich selbst hat: "Clean and Green". Die Kiwis haben es ihrem Vorzeigeunternehmer deshalb übel genommen, dass er im Jahr 2003 die Produktion nach China verlegt hat. Danach gefragt, straffen sich Moons Schultern: "Das war hundertprozentig konsequent." Er atmet durch und fügt hinzu: "Die schlechtesten Hersteller der Welt habe ich in China gesehen. Und die besten auch."
Ein internationales GemeinschaftswerkIm Jahr 2002, Icebreaker hatte gerade den Schritt nach Übersee gewagt, wuchs der Markt so schnell, dass die Produktion in Neuseeland nicht mehr nachkam. "Wir mussten hier mit Maschinen arbeiten, die zum Teil älter waren als ich", erzählt Moon, "noch aus den 1960er Jahren. Icebreaker ist darauf angewiesen, Zugang zu innovativen Technologien zu haben, und den hatten wir hier nicht. Ich hatte grosse Sorge, dass eine Firma wie North Face kommt, unsere Idee weiterentwickelt und uns damit vom Markt fegt."
Icebreakers chinesische Fertigungskette ist ein internationales Gemeinschaftswerk: Franzosen säubern die Wolle vom Wollfett, dem Lanolin, Deutsche spinnen das Garn, ein japanisch-chinesisches Joint Venture stellt daraus Stoffe her. Für Moon eine weitere Erleuchtung: "Es kommt nicht darauf an, wo man etwas tut, sondern wie man es tut.
Wir können in China höhere Qualität produzieren und die Umwelt weniger belasten, als das in Neuseeland möglich wäre." Ohne Frage auch günstiger. Erst vor kurzem wurde es auf diese Weise möglich, die ultrafeinen Garnituren mit einem Nylonanteil von fünf Prozent herzustellen, bei gleichen Trageeigenschaften. Den Schweizern und Deutschen, die im europäischen Vergleich besonders gern Funktionsunterwäsche aus Merino kaufen, dürfte das angenehm auffallen, denn auch diese Massnahme war eine Antwort auf die ewige Herausforderung, vor der die feine Faser steht: Löcher. In den deutschsprachigen Ländern verkauft Icebreaker besonders gut. "Weil wir die gleichen Werte haben", ist Moon sich sicher. "Unsere Kunden dort lieben natürliche und authentische Produkte, sie sind qualitäts- und designbewusst und mögen es innovativ."
Liebe nach PlanLange hat das rasant wachsende Unternehmen explizit Moons Handschrift getragen. Mit dem Sprung auf den Weltmarkt galt es plötzlich, ein millionenschweres Unternehmen zu führen und "immer mehr ein richtiger CEO zu werden". Zwangsläufig musste er Kontrolle abgeben. "Das fiel mir furchtbar schwer", sagt er im Nachhinein. "Jahrelang war ich der Feuerwehrmann für alles - und habe es geliebt!" Heute ist er froh, dass er den Chefposten 2013 an Rob Fyfe abgeben hat, den ehemaligen Chef von Air New Zealand. Schon Jahre zuvor hatte Moon bei Fyfe Rat gesucht und ihn in den Vorstand geholt: "Ich brauchte Hilfe mit den Komplexitäten, mit denen ich es zu tun hatte. Mein Plan war, dass Fyfe sich in Icebreaker verlieben würde."
Ein weiterer Plan, der aufgegangen ist. Jeremy Moon wirkt heute weiter als Berater und Mentor der Produktentwicklung - und kann wieder das tun, worin er am besten ist: sich inspirieren lassen, innovativ sein. Begeistert zeigt er seine Handyfotos aus der Antarktis, von dort ist er gerade zurückgehrt. Auf Scott Base, der neuseeländischen Antarktisbasis, hat er einen TED-Talk über Nachhaltigkeit gehalten. Sein Fazit vom Ende der Welt: "Die Natur löst Probleme besser als der Mensch."