ak [ due ] ll : Viele EU-Staaten fordern, dass sich die Einreise von Geflüchteten wie im Jahr 2015 nicht wiederholen dürfe. Was hat das aus Ihrer Sicht für Konsequenzen?
Maximilian Pichl: Es gibt darüber einen großen politischen Konsens von Nationalkonservativen, sogar hinein in die Sozialdemokratie und Teile der Linken. Sie behaupten, es hätte einen Kontrollverlust gegeben, eine ungeordnete Zuwanderung. Das wird als Argument benutzt, um einen rigorosen Grenzschutz durchzusetzen.
Was dabei außer Acht gerät, ist, dass 2015 über eine Million Flüchtlinge versucht haben, nach Europa zu kommen, um hier perspektivisch Schutz zu bekommen. Den hatten sie in den benachbarten Staaten, nahe den Krisenregionen, aus diversen Gründen nicht. Da sieht man eine diskursive Verschiebung von 2015, wo es eine wirkmächtige Willkommenskultur gab, bis heute, wo es nur noch um Grenzschutz geht. Das beste Beispiel sind die Aussagen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die die griechischen Grenzbehörden als „Schild Europas" lobte, obwohl die derzeit viele Menschenrechtsverletzungen durchsetzen. Es wäre eigentlich Aufgabe einer Kommissionspräsidentin auf diese Menschenrechtsverletzungen, die mit dem EU-Recht unvereinbar sind, hinzuweisen.
Wir haben seit 2015 eine kontinuierliche Verletzung von Menschenrechten, weil wir Lager auf den griechischen Inseln haben, die in keiner Weise garantieren, dass Menschen dort menschenwürdig aufgenommen werden. Da werden alle Schutzinstrumente für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge ausgehebelt. Den Rechtsbruch mit dem Europarecht und auch dem Kindeswohl, gibt es also schon lange. Auf den Inseln greifen faschistische Gruppen in Kollusion [Anm. d. Red: ein unerlaubtes Zusammenwirken der beiden Subjekte mit der Absicht, Dritten Schaden zuzufügen] mit griechischen Behörden massiv Geflüchtete an. Das verändert den Diskurs massiv. Die griechische Regierung hat ja auch gesagt, dass sie diese Lager dort schließen will. Das geht nicht einher mit einer solidarischen Umverteilung dieser Menschen.
Pichl: Es gibt schon lange die Forderung, dass die Menschen da raus geholt werden, weil das Zustände sind, die zu schweren psychischen und physischen Verletzungen führen. Das ist das Paradoxe: Das sind Menschen, die aus Krisenregionen geflohen sind und auf den griechischen Inseln teilweise noch schlechter behandelt werden als dort, wo sie herkommen.
Das wird sich auf die Menschen und gerade auf Kinder auswirken, die seit Jahren in diesen Camps in unwürdigsten Bedingungen ausharren. Das Grenzregime produziert so gebrochene Biographien, wo man Menschen hat, die Jahrzehnte traumatisiert sein werden. Das hätte man menschenwürdig lösen können. Und da bin ich sprachlos angesichts dieser Situation.
Pichl: Die sprachliche Verrohung und Normalisierung, dass nicht mehr über Geflüchtete geredet wird, sondern nur noch über Migrant*innen, trägt dazu bei, dass so rigorose und gewalttätige Maßnahmen durchgesetzt werden. Die individuellen Schutzbegehren werden gar nicht mehr gesehen. Dieser Diskurs wurde in ganz Europa von der extremen Rechten befeuert. Das übersetzt sich in diese Handlungen vor Ort. Es ist vollkommen unverhältnismäßig, dass Gewalt gegen schutzsuchende Menschen angewendet wird. Das ist ein qualitativer Unterschied zu 2015 und zeigt diese massive Rechtsverschiebung im Diskurs. Ich habe keine Statements von Regierungsvertreter*innen gelesen, die gesagt hätten, dass sie die Gewalt gegen Geflüchtete verurteilen. Ganz im Gegenteil. Man dankt den Bürger*innen auf den Inseln für ihr Verhalten. Das ist schamlos und sendet ein Signal an die extreme Rechte, dass sie mit dem, was sie tun, den angeblichen "Willen des Volkes" durchsetzen. Das ist nicht der Fall, denn es gibt in Europa ganz viele Menschen und Organisationen, die sich für Solidarität und eine menschenwürdige Aufnahme einsetzen, aber die sind in der Öffentlichkeit gerade massiv in den Hintergrund gedrängt worden.
Pichl: Flüchtlinge müssen laut höchstrichterlichen Urteilen aufgenommen und auf das Festland gebracht werden. Sie kriegen ein Verfahren, wo geprüft wird, aus welchen Gründen sie geflohen sind. Es gibt seit 2015 Urteile vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die teilweise in eine andere Richtung deuten, wie kürzlich das Urteil zur spanischen Außengrenze, wo sogenannte „heiße Abschiebungen", also ohne Verfahren und kollektiv durchgeführt, unter bestimmten Bedingungen legalisiert wurden. Wenn die Regierung behauptet, Flüchtlinge oder Migrant*innen würden gewaltsam eine Grenze übertreten, dann kann das zu einer Verwirkung ihrer Verfahrensrechte führen.
Ich halte das für rechtlich inkonsistent mit der bisherigen Rechtsprechung. Das Urteil wird von der griechischen Regierung genutzt, um zu legitimieren, was sie da tut. Was trotzdem nicht möglich ist, ist das Asylrecht für einen Monat auszusetzen. Das ist ein eklatanter Bruch mit der Genfer Flüchtlingskonvention und mit dem EU-Recht, die jeweils ein individuelles Asylverfahren vorsehen. Und das kann ein Nationalstaat nicht einfach von sich aus aufkündigen.
Pichl: Die Gerichte kann man daran erinnern, dass sie den Menschenrechten verpflichtet sind. Das was in Griechenland passiert und was die Kommission sagt, sind nur der Gipfel der Entwicklung, bei der die EU versucht den Flüchtlingsschutz an andere Staaten auszulagern. Dass der EU-Türkei-Deal kollabiert ist, ist ein Problem für die EU, weil sie darauf setzt, dass keine Flüchtlinge mehr europäischen Boden betreten sollen. Ziel der europäischen Exekutive ist zu verhindern, dass Menschen überhaupt den Rechtsstaat in Anspruch nehmen können. Das ist schon seit 30 Jahren das Ziel dieser Externalisierungspolitik. In Griechenland sehen wir jetzt eine gewaltvolle Anwendung dieses Prinzips.
Pichl: Es gibt keine Möglichkeiten, weil die EU alle legalen Fluchtrouten seit Jahrzehnten versperrt hat. Die Flüchtenden können nicht mit dem Flugzeug in die EU fliegen, weil die Beförderungsunternehmen ihnen das untersagen.
Sonst gibt es auch keine Möglichkeiten beispielsweise über ein Botschaftsasyl oder andere Instrumente Schutz zu bekommen. Deshalb machen sich Menschen seit Jahren auf den Weg, um mit einer spontanen Flucht nach Europa zu gelangen und dort das Asylrecht in Anspruch nehmen zu können.
Pichl: Es gibt einen massiven Widerspruch. Auf der einen Seite gibt es in ganz Europa zivilgesellschaftlichen Bewegungen, auch in autoritären Staaten wie Ungarn und Polen, eben Gruppen, die sich für menschenwürdige Bedingungen und eine Aufnahme einsetzen. Auf der anderen Seite gibt es den Rechtsruck, der in vielen Regierungen Europas angekommen ist. Die EU wird weiterhin versuchen auf Drittländer wie die Türkei zu setzen oder auf afrikanische Drittstaaten. Anhand des EU-Türkei-Deals kann man sehen, dass diese Externalisierungspolitik massiv prekär ist; eigentlich jeden Tag zusammenbrechen kann. Es ist gekaufte Zeit, um für wenige Monate oder mal ein Jahr dafür zu sorgen, dass die Flüchtlingsbewegungen weniger werden. Aber man kann in der EU-Geschichte sehen, dass Flüchtlinge immer Routen finden, nach Europa zu gelangen. Derzeit versuchen mehr Menschen über die westafrikanischen Staaten und kanarischen Inseln nach Spanien zu gelangen. Europa wird sich durch solche Deals Flüchtlinge nicht vom Hals halten, deshalb sollte Europa wieder umschwenken auf Maßnahmen, die den Flüchtlingsschutz befördern.