Als sich die Menschen am Willy-Brandt-Platz in Essen sammeln, entsteht ein eindrucksvolles Bild. Um den Lautsprecherwagen herum bilden die 1.000 Demonstrant*innen einen Kreis. In der Mitte sind Säcke zu sehen, die aussehen wie Leichen, und mit den Namen der zivilen Rettungsschiffe versehen sind. Die Boote liegen derzeit in den Häfen von Malta und Italien, dürfen jedoch nicht ablegen oder sind sogar beschlagnahmt.
Auf der Bühne steht Tareq von der Initiative Refugee Strike Bochum. Er kommt aus Syrien. . Zwei Stunden seiner Flucht verbrachte er zwischen der Türkei und Griechenland auf dem Mittelmeer. Zwischen Izmir in der Türkei und der griechischen Insel Lesbos liegen 100 Kilometer. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Überfahrt von Libyen nach Italien ist", erzählt er. 357 Kilometer sind es von der libyschen Hauptstadt Tripolis bis zur Insel Malta.
Nachdem Tareq die Bühne verlässt, stürmt ein Mann gestikulierend darauf zu. „So einen Scheiß habe ich noch nie gehört", brüllt er. Er steht symptomatisch für den Rechtsruck in Europa. Wegen solch einfacher Feindbilder hat sich Inga Sponheuer Anfang der Woche entschieden, die Demo anzumelden. „Dass die Welt aus den Fugen gerät, liegt nicht an den Menschen, die die Opfer dieses Prozesses sind", sagt sie. Inga hielt es nicht mehr aus: „Ich fühle mich mitverantwortlich, wenn ich schweige." Ihr gehe es vor allem um Empathie. „Das ist, worauf unsere ganze Menschheit, die Freiheit und Demokratie beruhen. Wenn wir aufhören empathisch zu sein, hören wir auf, frei zu sein", erklärt sie.
Die Menschenrechte mit Füßen getretenNathan und Hannah sitzen etwas weiter weg von der Bühne. Sie sind mit ihrem Baby zur Demo gekommen. Am Kinderwagen hängt ein Schild: „Wer absichtlich Kinder sterben lässt, gehört nicht ins Parlament, sondern in den Knast", hat Hannah darauf geschrieben. „Ganz Europa weiß Bescheid, schaut dabei zu und toleriert das. Das ist in meinen Augen eine Straftat", sagt sie.
Erst gestern habe sie ein Video von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International gesehen. Schiffbrüchige Geflüchtete seien in libysche Gefängnisse gebracht worden, wo sie gefoltert werden. „Ich bin auch für sichere Fluchtwege hier, damit die Leute gar nicht erst übers Mittelmeer fahren müssen", so Hannah. Nathan ergänzt: „Mich macht einfach extrem wütend, dass geltende Menschenrechte vor den Augen der gesamten Öffentlichkeit mit Füßen getreten werden. Die EU verliert damit ihre Menschlichkeit."
Kritik äußern viele der Teilnehmer*innen auch am deutschen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). „Menschen statt Grenzen schützen", „Humanität statt Heimat-Liebe" oder „Europa, mach dich nicht zum Horst", heißt es auf vielen Schildern. Von der Bundesregierung fühlen sich hier die wenigsten vertreten.
So geht es auch Anmelderin Inga. „Sie sagen, sie handeln in unserem Interesse. Das ist Bullshit. Sie handeln nicht in unserem Interesse und gefährden die komplette Zukunft dieser Erde", sagt sie unmissverständlich. Wie es mit den Seebrücke-Demonstrationen in Essen weitergeht, weiß sie noch nicht, nur dass sie nicht länger schweigen wird.